KURZE GESCHICHTE DER FLÜCHTLINGSPROTESTE IN FRIEDERSDORF und Offener Brief an die politisch Verantwortlichen des Flüchtlingslagers Friedersdorf

„Freiheit ist ein Recht für alle Menschen. Isolation macht unsere Köpfe kaputt. Kein Mensch ist illegal.“
(Transparent/Flüchtlingslager Friedersdorf – 30. April 2013)

Die Proteste starteten bereits im Herbst 2012. Auftakt war eine insbesondere von der „Flüchtlingsinitiative Wittenberg“ (heute: „Flüchtlingsbewegung Sachsen-Anhalt“) zusammen mit den BewohnerInnen der Flüchtlingslager Friedersdorf und Marke organisierte Demonstration in der Bitterfelder Innenstadt. Die Kritik richtete sich zum einen gegen den baufälligen Zustand der beiden Gemeinschaftsunterkünfte, zum anderen gegen deren isolierte Lage. Denn diese würde zusammen mit Abschiebeandrohungen,
Arbeitsverboten, Aufenthaltsbeschränkungen durch die Residenzpflicht und weiteren Diskriminierungen zu ihrer persönlichen „Zerrüttung und Traumatisierung“ beitragen, so die BewohnerInnen in einer damals veröffentlichten Erklärung. Gefordert wurde stattdessen die sofortige Schließung der Lager und eine dezentrale Unterbringung in privaten und zudem städtisch gelegenen Wohnungen.

Sowohl im Vorfeld als auch danach hat diese Demonstration in Bitterfeld ein lebhaftes Echo nicht nur in den regionalen Medien, sondern auch der örtlichen Politik hervorgerufen. So hatten bereits kurz vor der Demonstration Mitglieder des Sozial- und Gesundheitsausschusses des Kreistages das Flüchtlingslager Friedersdorf besucht und sich anschließend laut Mitteldeutscher Zeitung vom 28. November 2012 „entsetzt“ über die Situation gezeigt, unter anderem die Sozialdezernentin des Landkreises Anhalt-Bitterfeld, Dr. Sabine Engst. Und auch danach ging die Debatte weiter, unter anderem am 28. Januar 2013, als ein Bewohner des Lagers die festliche Titelverleihung „Stadt ohne Rassismus – Stadt mit Courage“ an die Stadt Bitterfeld effektvoll unterbrach und auf die Situation der
Flüchtlinge in den beiden Lagern aufmerksam machte.
Nichtsdestotrotz hat sich die Lage in Friedersdorf in den letzten Monaten eher zugespitzt als verbessert. Zu erwähnen sind zunächst zahlreiche Einschüchterungsversuche gegen Oumarou Hamani Ousman, einen der Initiatoren der Proteste (und zudem aktiv bei Afrique-Europe-Interact).
Beispielsweise wurden Neuankömmlinge in Friedersdorf seitens des Lagerleiters ausdrücklich vor diesem gewarnt. Hinzu kommen mehrere Anzeigen gegen Oumarou Hamani Ousman wegen vorgeblicher Beleidigungen sowie ein ebenfalls vom Lagerleiter im Januar 2013 verfasster Brief an die Ausländerbehörde, in der die dezentrale Unterbringung von Oumarou Hamani Ousman gefordert wird. Begründung: Dieser sei psychisch krank und daher für die Gemeinschaftsunterkunft nicht mehr tragbar. Ungleich skandlöser dürfte allerdings ein weiterer Einschüchterungsversuch (unter Missachtung aller Diskretions- und Sorgfaltspflichten) anlässlich eines nicht
angekündigten Besuchs des CDU-Landrats Uwe Schulz im Flüchtlingslager Friedersdorf am 26. Februar gewesen sein. Denn im Laufe dieses Besuchs teilte der Leiter der Ausländerbehörde, Herr Tiefenbach, Oumarou Hamani Ousman in Gegenwart des Landrats und diverser anderer Personen urplötzlich mit, dass das Landeskriminalamt durch Nachforschungen im Niger herausgefunden haben wolle, dass seine Geburtsurkunde gefälscht sei und er daher Deutschland schnellstmöglich zu verlassen habe.
Hinzu kamen zwei weitere Ereignisse, die ebenfalls für großen Unmut unter den protestierenden Flüchtlingen gesorgt haben: Zunächst sollte der sudanesische, bereits 2004 aus Darfur nach Deutschland geflüchtete und in Marke untergebrachte Menschrechtsaktivist Osman Tijani im Februar bzw. im Mai abgeschoben werden, was jedoch beide Male durch massive (Fax-)Proteste verhindert werden konnte (vgl http://www.thecaravan.org/node/3767). Sodann verstarb am 25. April Cosomo Saizon an den Folgen einer vergleichsweise harmlosen Erkankung, nachdem ihm der Arzt eines bereits am 19. April nach Friedersdorf gerufenen Krankenwagens lediglich ein Antibiotikum
verschrieben hatte, anstatt die sofortige Einweisung in die Klinik zu veranlassen.
Vor diesem Hintergrund ist es sodann am 30. April zwischen 5 und 10.30 Uhr zu der eingangs bereits erwähnten Blockade der Zufahrtstaße zum Flüchtlingslager Friedersdorf gekommen. Anlass war zum einen die generelle Situation, zum anderen das Verhalten des Heimleiters, dessen Abberufung innerhalb von vier Wochen gefordert wurde. Denn dieser würde sich nicht nur auf der verbalen Ebene „rassistisch, primitiv und verächtlich“ aufführen, wie es in einer im Anschluss an die Aktion verfassten Erklärung heißt. Vielmehr habe er mehrfach (ablesbar am Poststempel) wichtige Briefe vom Bundesamt für Migration bzw. von der Ausländerbehörde mit zweiwöchiger
Verspätung ausgeliefert, so dass den betroffenen Flüchtlingen wertvolle Zeit zum Einlegen von Widersprüchen verloren gegangen sei. Genausowenig hat er vor handfesten Lügen zurückgeschreckt – beispielsweise vor einigen Wochen, als sich über 20 BewohnerInnen vor seinem Büro versammelt hatten.
Denn nachdem er fluchtartig das Lagergelände verlassen hatte, hat er gegenüber der Polizei Anzeige gegen Oumarou Hamani Ousman wegen angeblicher Bedrohung und Körperverletzung gestellt – und das obwohl ein Handy-Video unzweideutig zeigt, dass es zu keinerlei Berührungen oder ähnlichem gekommen ist. Doch zurück zur Blockade: Diese wurde erst beendet, nachdem sich der Leiter des Sozialamtes (Martin Kriebisch) und die private Betreiberin des Flüchtlingslagers (Ingrid Krumrey) zu einem Klärungsgespräch mit
Delegierten der Flüchtlinge bereit erklärt hatten. Am 6. Mai ist es auch tatsächlich zu einem solchen Treffen gekommen, allerdings ohne konkretes Ergebnis. Stattdessen wurde am 23. Mai per Aushang bekannt gegeben, dass es ab Anfang Juni einen neuen Heimleiter geben solle. Dies klingt gut, ist es aber nicht. Denn der neue Heimleiter ist bereits als Handwerker im Lager angestellt und hat sich zudem in der Vergangenheit immer wieder als Verbündeter des bisherigen Lagerleiters präsentiert.
Abschließend noch ein Wort zu den politischen Zuständigkeiten: Neben dem privaten Betreiber ist in erster Linie der Landkreis Anhalt-Bitterfeld für die Situation in den Flüchtlingslagern Friedersdorf und Marke veranwortlich – also die Sozialdezernentin, der Leiter des Sozialamtes und die beiden zuständigen Ausschüsse des Kreistags (die im übrigen – worin eine Chance bestehen könnte – von Mitgliedern der Partei Die Linke geleitet werden). Darüber hinaus sollten aber auch der Landes-Innenminister sowie die lokale Ausländerbehörde nicht aus dem Blick geraten (unabhängig davon, dass sich der Protest in diesem Fall auf den Landkreis konzentrieren soll): Ersterer, weil er maßgeblich für die Richtlinien verantwortlich ist, nach denen Flüchtlinge untergebracht werden. Zweitere, weil sie immer wieder durch ausländerrechtliche Interpretationen dafür sorgt, dass Flüchtlinge auf unbefristete Dauer in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen (zum Beispiel auf Basis der mehr oder weniger willkürlichen Behauptung, dass ihre Identität ‚ungeklärt‘ sei).
Offener Brief an die politisch Verantwortlichen des Flüchtlingslagers Friedersdorf in Sachsen-Anhalt
NameStraße + HausnummerStadt
Ort + Datum
Betrifft: Offener Brief an die politisch Verantwortlichen des
Flüchtlinslagers Friedersdorf im Landkreis Anhalt-Bitterfeld
Sehr geehrte Damen und Herren,sehr geehrte Frau Sozialdezernentin Dr.
Engst,sehr geehrter Herr Kriebisch, Leiter des Sozialamtes
Anhalt-Bittefeld,sehr geehrte Frau Zoschke, Vorsitzende des Sozial- und
Gesundheitsausschusses des Kreistags,sehr geehrter Herr Maaß, Vorsitzender
des Vergabeausschusses des Kreistags,
wie Sie wissen, ist es im Laufe der letzten 8 Monate immer wieder zu Protesten seitens der BewohnerInnen in der Gemeinschaftsunterkunft Friedersdorf gekommen. Ich möchte daher ausdrücklich meine Solidarität mit diesen Protesten kundtun. Und das aus mindestens drei Gründen: Erstens, weil die unfreiwillige und oftmals jahrelange Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften einen massiven Eingriff in die Privatsphäre und somit eine Verletzung des fundamentalen Menschenrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit darstellt, wie es sich unter anderem aus Artikel 2, Absatz 1 des Deutschen Grundgesetzes ergibt. Das aufenthaltsrechtlich verfügte und ebenfalls seit Jahren heftig kritisierte Arbeits- und Ausbildungsverbot für Flüchtlinge sollte also nicht zusätzlich noch durch die Unterbringungsform verschärft werden.
Zweitens unterstütze ich die Proteste, weil gesellschaftliche Isolation auf Dauer bei vielen der Betroffenen zu schweren seelischen Schäden führt – ein Umstand, auf den auch die Flüchtlinge in Friedersdorf bei ihrer letzten Protestaktion unmissverständlich hingewiesen haben: „Freiheit ist ein Recht für alle Menschen. Isolation macht unsere Köpfe kaputt. Kein Mensch ist illegal.“ Hinzu kommt, dass Schätzungen zufolge rund 40 Prozent aller Asylsuchenden ohnehin traumatisiert sind. Für sie stellt das Leben in Germeinschaftsunterkünften eine besonders schwere Belastung dar. Entsprechend zeigen zahlreiche Studien, dass es gerade hierdurch zur Herausbilungen oder Verfestigung posttraumatischer Belastungsstörungen kommen kann.
Drittes solidarisiere ich mich mit den Protesten, weil die Gemeinschaftsunterkunft in Friedersdorf auch gegen die vom Land Sachsen-Anhalt selbst gesteckten Maßstäbe verstößt, wie sie in den „Leitlinien zur Flüchtlingsunterbringung“ des Ministeriums für Inneres und
Sport vom 15.01.2013 festgehalten sind. So sind die Häuser, anders als vom privaten Betreiber behauptet, in einem miserablen Zustand – inklusive regelmäßiger Überbelegung der Zimmer. Des weiteren stehen keine ausgebildeten SozialarbeiterInnen zur Verfügung, ganz davon abgesehen, dass es massive Klagen der BewohnerInnen über zutiefst respektloses und rassistisches Verhalten seitens der Angestellten gibt. Erinnert sei insbesondere an die verzögerte Zustellung wichtiger Behördenbriefe durch die Heimleitung, wie die BewohnerInnen mittels der jeweiligen Poststempel unzweideutig nachweisen konnten.
Die Lage in Gemeinschaftsunterkünften wie Friedersdorf ist hochgradig beunruhigend, ja skandalös. Ich möchte daher den Landkreis
Anhalt-Bitterfeld auffordern, sämtliche seiner Verträge für Gemeinschaftsunterkünfte schnellstmöglich aufzulösen und stattdessen eine
dezentrale, städtisch gelegene Unterbringung der BewohnerInnen zu ermöglichen. Hierzu gehört auch, dass sämtlichen Einschüchterungsversuchen der protestierenden Flüchtlinge – ob durch Heimbetreiber oder staatliche Stellen – offensiv entgegenzutreten ist.
Mit freundlichen Grüßen
KARAWANE für die rechte der Flüchtlinge und Migrantinnen Wittenberg,
Sachsen AnhaltFlüchtlingsbewegung Sachsen Anhalt.The Voice Refugee Forum
Wittenberg, Sachsen Anhalt
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