Vom Märchen der Gewaltspirale. Solidarität mit den Betroffenen neonazistischer Gewalt in Bitterfeld

Stellungnahme des antiranet lsa
22.04.2015
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Interview zur Situation in Bitterfeld von Radio Corax
Das antirassistische Netzwerk Sachsen-Anhalt solidarisiert sich mit den Betroffenen der rechten Gewalt, die seit einigen Wochen in Bitterfeld mit besonderer Intensität zu Tage tritt. Nach vier Angriffen auf Einzelpersonen durch Nazis, die ihre Opfer teilweise schwer verletzten, wurde am 17. April 2015 ein Brandanschlag auf das Alternative Kulturwerk (AKW) verübt. [1]
Wir verurteilen diese Angriffe durch Mitglieder der neofaschistischen Szene. Besonders erzürnt sind wir jedoch über die Reaktionen aus der Bitterfelder Gesellschaft, Politik und Presse. Denn die Betroffenen der rechten Gewalt werden allein gelassen. Die Absicht der Nazis, ein Klima der Angst und des Schreckens zu schaffen, wird damit – ob beabsichtigt oder nicht – bestärkt. Aber nicht nur fehlende Unterstützung und Solidarität, sondern auch eine Kriminalisierung der Opfer als Protagonisten einer imaginierten „Gewaltspirale“ lässt sich feststellen. Das ist der pure Hohn.

Wir beobachten eine Parallele zur Kleinstadt Tröglitz, in der Mitglieder der NPD und anderweitig organisierte Nazis den örtlichen Bürgermeister im März dieses Jahres so lange terrorisierten, bis dieser aus Angst um seine Familie zurücktrat. Grund war seine Befürwortung einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete im Ort gewesen. Schließlich wurde am Karfreitag ein Brandanschlag auf die geplante Unterkunft für Geflüchtete verübt. In der Reaktion hierauf aus Politik und Gesellschaft wurden einige wenige rechte Störenfriede ausgemacht, vor denen man – eine vermeintlich breite, starke demokratische Mitte – nicht zurückweichen würde. Nach dem Motto: Wenn man nur oft genug sagt, ein Bundesland sei weltoffen und tolerant, ­­­­wird’s irgendwann wahr; Sachsen-Anhalt soll sich scheinbar als Speerspitze der Demokratie und Weltoffenheit bewähren, und je mehr die Realität von dieser Vorstellung abdriftet, desto lauter bekennt man sich dazu.
Ähnlich nun in Bitterfeld: Die Kommunalpolitiker_innen zeigen sich in einem offenen „Brief gegen Extremismus“ „entsetzt und fassungslos über die aktuellen Geschehnisse“. Man verzeichne eine „wachsende Anzahl gewalttätiger Übergriffe einzelner Gruppierungen des linken wie des rechten Randes des politischen Spektrums“ und sei besorgt über das „schlechte Licht auf unsere Stadt“. [2]
Während andere um ihr Wohlbefinden, ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Zuhause bangen, sich in ihrem unmittelbaren Alltag mit einer gewalttätigen, selbstbewussten Nazi-Szene auseinandersetzen müssen und dabei von Seiten der Polizei und der Stadt völlig allein gelassen werden, ist man in der Politik lediglich um den Ruf der schönen Stadt Bitterfeld besorgt. Bei rechter Gewalt und Hetze erkennt man scheinbar keinen Handlungsbedarf.
In unserer antirassistischen Arbeit geht es uns immer wieder darum, die Verbindung zwischen institutioneller Diskriminierung, der damit einhergehenden juristischen Konstruktion des „Fremden“ und dem Rassismus und den faschistoiden Tendenzen des Volksmobs aufzuzeigen. Und auch in diesem Fall darf dies nicht ausbleiben: Wer Geflüchtete in Baracken meilenweit außerhalb der Stadtgrenze unterbringt (im Falle Bitterfeld die Lager Marke und Friedersdorf), akzeptiert nicht nur die rassistische und sozialchauvinistische Fremdbestimmung Geflüchteter, sondern trägt auch dazu bei, dass Menschen, die diese Diskriminierung zu einer gewaltvollen Konsequenz führen, sich als Vertreter des Volkes fühlen können. Rassismus und Neofaschismus sind Teil unserer Gesellschaft. Und Nazis als „auffällige“ Täter, die man wegen ihrer rufschädigenden Wirkung zähneknirschend öffentlich wahrnehmen muss, sind es genauso. Dies lässt sich nicht dadurch wegreden, dass behauptet wird, diese massive Gewaltoffensive von Nazis auf als alternativ wahrgenommene Jugendliche, auf Nicht-Weiße und auf ein linkes Kulturprojekt sei Teil eines Gewaltproblems zwischen Randgruppen. Im Gegenteil, durch die Markierung der Opfer als Fremdkörper am linken Rand werden diese nicht nur als Zielscheibe rechter Gewalt legitimiert, sondern auch gesellschaftlich marginalisiert.

Solidarität mit den Betroffenen neonazistischer Gewalt in Bitterfeld und überall! Gegen Kriminalisierung der Opfer durch Staat und Gesellschaft! Gemeinsam gegen Nazis und Rassisten im Amt und auf der Straße!