[Kroatien] Kurztagebuch 22.–24.09.

(Zum aktualisierten Spendenaufruf)
ORTE: OPATOVAC (kroatisch-serbische Grenze) und BELI MANASTIR (kroatisch-ungarische Grenze), Kroatien.
Live-Bericht vom 24.09. anhören: auf Radio Corax

Dienstag, 22.09.
Als wir am frühen Nachmittag des 22.09. das Camp in Opatovac verlassen, um einkaufen zu fahren, sind wir die einzigen freiwilligen Helfer, die außer dem roten Kreuz und dem UNHCR anwesend sind. Wir fahren in den nächsten Ort, um das Auto so voll wie möglich mit Wasser und Nahrungsmitteln zu beladen, mit dem Gedanken, noch für einige Zeit die einzigen zu sein, die Menschen vor der Registrierung im Camp mit dem nötigsten zu versorgen. Wir kaufen für 350 Euro im Lidl ein und düsen zurück.
Als wir ankommen, hat sich die Situation schlagartig gewandelt: Freiwillige aus ganz Europa sind anwesend, eine kleine Küche kocht Suppe und Tee und die Ärzte ohne Grenzen haben ein Zelt aufgebaut. Noch immer allerdings sind die Menschen hungrig und durstig, und noch immer müssen die Menschen den Weg von der Grenze zu Fuß auf sich nehmen. In Sid (also «schied») wurden die Leute vor den Augen der Freiwilligen eigentlich mit Bussen weggefahren, jedoch scheinen diese die Flüchtenden wenige Kilometer weiter einfach wieder ausgeladen zu haben und diese müssen wiederum dennoch etliche Kilometer zu Fuß zurücklegen. Andere Freiwillige richten mit Kleinbussen einen Shuttle ein. (Es sollen um die 6000 Menschen an diesem Tag durch dieses Lager gekommen sein, ist die Zahl, die wir abends dann hören.)
Wir beobachten, dass etliche Reisebusse, voller Menschen vom Lager abfahren und etliche leere Reisebusse wieder ankommen. Dies kann eigentlich nur bedeuten, dass die Menschen zu einem nahegelegenen Transitort gebracht werden. Wir fahren schnell nach Tovarnik, um dies rauszufinden. Dort sehen wir im Ort ein UNHCR-Zeltchen vor einem Büro stehen, wichtig aussehende Menschen stehen davor, rauchen und telefonieren. Wir lernen Alfredo, den «Guy in Charge», kennen. Er sagt uns, die Busse würden direkt an die ungarische Grenze fahren. Ich äußere meine Zweifel hierüber und frage ihn, ob er nicht wüsste, wie es am Bahnhof aussieht ; er versichert uns, dort sei niemand.
Wir unterhalten uns kurz mit den Volunteers, die einige Tage in Sid verbracht haben, darunter auch Sharon, die völlig fertig ist. Dann beschließen wir, die paar Meter zum Bahnhof zu fahren. Dort sind eine Handvoll Freiwillige – das «tschechische Team» – anwesend, und als ich das Fenster runterkurbele und anhalte, ist die erste Frage, ob wir Wasser dabei haben. Wir bejahen dies und werden gebeten, sofort zu parken und das Wasser auszuladen.
Ein Zug steht auf dem Gleis, zwei oder drei Dutzend Polizisten stehen davor. Die Menschen hängen an den Fenstern und rufen nach Wasser. Wir versuchen, einigermaßen gerecht und flächendeckend Wasser und Saft zu verteilen ; dies ist im Grunde nicht einmal ansatzweise möglich. Für die ankommenden Familien haben wir glücklicherweise noch etwas Milch. Der Blick auf die Uhr sagt, dass wir in keinen Supermarkt mehr kommen werden, um Wasser zu kaufen, es ist 20.30 Uhr. Wir beschließen, es beim UNHCR-Zelt zu versuchen. Dort sagen wir einfach «We need Water», und unsere Warnwesten sind scheinbar Zeichen genug, daß wir dieses auch bekommen. Als wir von der Situation am Bahnhof erzählen – und dieser ist ca. 2 km entfernt, wenn überhaupt – ist der anwesende Mitarbeiter verdutzt und greift zum Telefon. Es wusste also anscheinend wirklich niemand bescheid.
Nachdem wir auch dieses Wasser verteilt und noch einige Polizisten mit Ibuprofen und Wasser versorgt haben und der Zug abgefahren ist, begeben wir uns zurück ins Lager, wo mittlerweile die Versorgung einigermaßen funktioniert. «Einigermaßen» heißt dennoch, dass unsere 54 kg Bananen innerhalb von fünf Minuten weg sind, ebenso die 30 kg Äpfel und diverse Kisten Müsliriegel und andere Snacks. «Einigermaßen» versorgt haben wir auch die ankommenden Flüchtenden am Bahnhof ; die Knappheit der Versorgungsgüter ist jedoch verinnerlicht bei den Flüchtenden. Dass Familien bevorzugt versorgt werden, wissen alle ; am Bahnhof bittet ein ca. 8-jähriger Junge mich um Wasser «for my baby».
Mittwoch, 23.09.
Am nächsten Morgen – wir haben das erste Mal «so richtig» geschlafen – ist für die Menschen, die von der Grenze kommen, durch die kroatischen Behörden ein Shuttlebus eingerichtet. Die allgemeine Lage hier ist – verhältnismäßig – entspannt. Es ist Mittwoch, der 23. September. Später erfahren wir, dass heute wieder 7000 Menschen erwartet werden.
Es stehen schon morgens etliche Busse vor dem Lager. Leider ist völlig unklar, wohin die Menschen gebracht werden, die in die Busse gesteckt werden. Dies scheint bei vielen Freiwilligen oder Organisationen zweitrangig zu sein, was uns ziemlich nervt. Wir versuchen, herauszufinden, wo die Busse hinfahren, die gerade das Camp verlassen, denn zum Bahnhof nach Tovarnik fahren sie nicht. Wir fahren nach Vucovar, dem nächstgrößeren Städtchen, und stellen uns auf einen Parkplatz an der Straße, bis wir einen weiteren Buskonvoi mit kleiner Polizeieskorte entdecken. Ich gebe Gas – die Verfolgung beginnt. Zwar verlieren wir die Busse, die mit Polizeischutz im Affenzahn durch alle Dörfer mit 90 Sachen heizen, zwischendurch, aber mit Blick auf die Karte und ein paar Schlussfolgerungen aus Tweets und Gerüchten finden wir den richtigen Grenzübergang und «unsere» Busse wieder.
Die ungarische Grenze ist seit heute komplett eingezäunt. Aus einem Gespräch mit einem verschwitzten und redseligen kroatischen Grenzpolizisten erfahre ich, dass am Morgen die Grenze kurzzeitig geschlossen war. Es ist unwirklich: Hinter dem nagelneuen Zaun sehen wir überall militärische Fahrzeuge, Panzer, und Armeeangehörige. Die ungarische Armee darf seit heute scharfe Waffen an der Grenze einsetzen. So wie es hinter dem Zaun aussieht, glaubt man das sofort.
Alle Polizisten auf kroatischer Seite sind freundlich – und hoffnungslos überfordert. Sie sind ratlos und verärgert über die ungarischen Armeeangehörigen, die kein Wort mit ihnen reden. Der verschwitzte Polizist sagt, mit Blick auf den Zaun, hin zu ungarischer Seite, «they are totally crazy», die sind total verrückt. Mehrere Male setzt er an, einen Satz zu beenden, der mit «Hungary….», Ungarn, anfängt. Notorisch schüttelt er den Kopf.
Die Busse werden nach und nach abgefertigt und die Flüchtenden betreten das Grenzgebiet. Die Vermutung schwirrt herum, die Armee stelle Busse, die wiederum an die österreichische Grenze fahren. Dies liegt nahe, und als die Leute mich fragen, wohin man sie bringt, gebe ich – unter Vorbehalt – diese Information weiter.
Später am Abend kommen noch mal zehn Busse. Die folgenden Stunden sind schrecklich und erschöpfend. Die Menschen in den Bussen sind alle unfassbar hungrig und durstig, knapp ein Dutzend müssen medizinisch notversorgt werden, Erwachsene, Babys und Kleinkinder haben seit dem Morgen nichts gegessen und erwarten eine weitere lange Busfahrt. Wir sind zu viert und mit unserem Kleinbus die einzigen, und Hunderten fehlt es am nötigsten. Ständig kommen die Sanitäter oder Polizisten auf uns zu und fragen, ob wir Wasser oder Essen hätten. Wir haben nicht einmal ansatzweise genug, um überhaupt jedem wenigstens einen Snack bekommen zu lassen.
Ein Polizist, der mit Mundschutz vor einem der Busse steht, vor dem sich inzwischen viele Männer aus den Bussen aufhalten, will mit mir sprechen, sichtlich gehetzt. Er meint, mit unserem Essen würden wir eine Schlägerei unter den Männern anzetteln und seien daran Schuld, dass die Menschen sich streiten (was ich persönlich in dieser Situation nicht beobachtet habe). Ich kann nicht an mich halten und schnauze ihn an, dass dies wohl daran liege, dass die Menschen hungrig seien. Ich schreie förmlich. Danach hilft er mir, Trinkpäckchen zu verteilen.
In den Bussen drängen sich vor allem die Frauen und Kinder, der Durst und Hunger der Menschen ist groß. Ich habe eine Tüte mit Trinkpäckchen in der Hand und zwänge mich durch den Bus, um den Kindern welche in die Hand zu drücken. Danach nochmal Milch. Dann ein paar Bananen, Tomaten. Müsliriegel, Toastscheiben. Kurzentschlossen fahren wir kurz vor Ladenschluss noch einmal in den Supermarkt und kaufen dort die Brot-, Bananen und Babygläschenvorräte auf und einige andere Sachen. Noch mal eben 400 Euro bezahlt. Wir überlassen vor Ort den Cops die Verteilung, die nach unserer Einschätzung recht gewissenhaft bei der Sache sind. Wir kehren nach Opatovac zurück. Unsere Informationen über die Situation an der Grenze sind offenbar nicht wirklich verbreitet worden, weshalb wir einfach alle möglichen Freiwilligen und Presseleute direkt ansprechen. «Follow the Busses !» ist unser Schlagwort.
Donnerstag, 24.09.
Wir kaufen beim Lidl in Vukovar 270 kg Bananen, die wir am Vortag bestellt haben. Und viel Wasser. Unser Bus ächzt. Wir fahren wieder an die Grenze. Wir müssen feststellen : Nichts hat sich geändert. Der gleiche Rettungswagen wie gestern steht da, zwei, drei Reporterteams (ich gebe kurzentschlossen ein Interview für ntv), und keine NGOs, kein Klo, kein Essen, kein Trinken. Es sind zwei Frauen da, die ähnlich wie wir unterwegs sind, die übersetzen können und versuchen, Informationen an die Flüchtenden weiterzugeben. Die beiden sind ziemlich fit.
Drei Busse stehen da, auf ungarischer Seite stehen bestimmt mindestens 200 Menschen an. Ich denke: Diese Leute kommen aus dem Krieg, und was sie hier sehen, ist das Militär, mit scharfen Waffen im Anschlag, in einem Niemandsland aus Maisfeldern, einem Zaun und Polizei und Armee. Wieder sind die kroatischen Polizisten hier recht freundlich, und noch immer herrscht eisernes Schweigen von Seiten der Ungarn. Vor mir pinkeln Kinder in die Büsche. Die Menschen haben keinerlei Privatsphäre, es riecht bereits sehr streng überall. Wir geben unsere letzten Medikamentenvorräte an die Sanitäter, vor allem Schmerzmittel sind ihnen
ausgegangen.
Heute um 17.00 werden noch einmal zehn Busse erwartet. Gerade (14.15 Uhr) beratschlagen die anderen aus meiner Gruppe, wie wir mit den Lebensmitteln umgehen, wie und durch wen die Verteilung stattfinden wird, etc. Eine regelmäßige Tätigkeit wird aufgenommen: Bananenbündel in einzelne Bananen aufteilen und Wasser aus den Sixpacks holen. Der ntv-Mann ist ganz scharf drauf und filmt «ganz authentisch», wie ich Wasser von der Ladefläche hiefe.
In Opatovac, das wir heute morgen verlassen haben, scheint das rote Kreuz einigermaßen koordiniert zu sein, und auch in Babtska ist es, anderen Freiwilligen zufolge, verhältnismäßig (!) geordnet. Die HelferInnen der Voküs werden in den geschlossenen Bereich des Camps gelassen, um warmes Essen zu verteilen. Die Presse ergötzt sich an den Flüchtenden, die in den Kleiderspenden wühlen.
Es fehlt an einer zentralen Koordination und Informationssammelstelle unter den Freiwilligen. Immer wieder wird alles abgebaut und irgendwo wieder aufgebaut, die meisten bleiben – wie auch wir – nur für ein paar Tage. Es bräuchte eine Hotline, an die man Infos weitergibt, die dann einen Ticker hat oder irgendwas, und 1,2 Leute an Inforufnummern, um Leute einzuteilen, ob sie eher scouten, einkaufen, kochen oder mit der Presse quatschen. Wir brauchen bessere Sim-Karten und Internetsticks. Wir müssen der Polizei, der Presse und den NGOs gegenüber mit Selbstbewusstsein und der richtigen Portion Sturheit auftreten, um an Infos und Dingen zu bekommen, was wir wollen. Ich bin ziemlich frustriert darüber, dass viele der Freiwilligen wenig mit den Behörden oder den NGOs zu kommunizieren scheinen (das ist ein persönlicher Eindruck von Opatovac und denjenigen, mit denen ich gesprochen habe, ist hoffentlich und wahrscheinlich woanders nicht so) ; und dass die Freiwilligen, die ja eigentlich sehr schnell agieren können und die Situationen von verschiedenen Stationen gut einschätzen können, dadurch langsamer und unkoordinierter sind. Aber wie das zu lösen wäre, weiß ich natürlich auch nicht, so viele individuelle Grüppchen wie wir sind unterwegs…