[Bernburg] Gesundheitsversorgung für alle – statt rassistischer Segregation!
Corona update zum Lager Teichweg: BewohnerInnen berichten, dass bis heute niemand dort getestet wurde. Sie wissen nicht, ob es infizierte Menschen im Lager gibt und sich der Virus ausbreitet. Bewohner: „We just living unknowingly“. Wir leben in Ungewissheit.
21.4.2020
Foto: Halle, April 2020
Bericht zum 3. Besuch im Lager Teichweg 6 in Bernburg am 31. März 2020
Antirassistisches Netzwerk Sachsen-Anhalt
Bericht als pdf
Medizinische Zugänge während der Corona-Pandemie? Zustände v.a. für (alleinstehende) Frauen auch mit Kindern/Babys unhaltbar! Aufruf: Menschen dort nicht alleine lassen – das Lager letztlich zu schließen! Alle Lager schließen! Aggressiv auftretendes Sicherheitspersonal und unsichere Verhältnisse während der Corona-Pandemie im Lager im Teichweg 6, vor allem für Personen mit chronischen Krankheiten. Gutscheinsituation erschwert die derzeitige Situation im Bezug auf Corona noch mal zusätzlich!
Erneut sind wir nach Bernburg gefahren und haben Freund_innen in der GU Teichweg 6 besucht. Als wir dort ankommen, guckt Enni* aus dem Fenster und ruft uns zu. Uns fällt schon hier auf, dass sie nicht so fit aussieht und fragen uns, wie medizinische Versorgung und Zugänge zu Ärzt_innen hier inzwischen – auch und gerade in Bezug auf die Covid-19-Pandemie – gewährleistet wird.
Inzwischen kommen weitere Menschen am Teichweg 6 an. Wir haben Kinderkleidung dabei und Kosmetik – denn ein Teil der Menschen, die in Bernburg in Lagern untergebracht sind, bekommen personalisierte Gutscheine und können sich davon nur einen Teil ihrer Bedarfe kaufen. Eine Freundin weint und erzählt dabei, dass sie am Tag, an dem die Coupons ausgegeben werden, immer traurig ist. Traurig, weil es die willkürlichen Unterschiede, die gemacht werden, sichtbar macht zwischen denen, die Geld und denen, die Gutscheine bekommen.
Eine andere Freundin erzählt, dass am Wochenende jemand gebrochen hat und die Überreste bis Montag im Waschbecken waren. Andere berichten davon, dass sie sich die Waschräume mit allen Bewohner_innen der GU teilen müssen und es keine Schutzräume vor Übergriffen gibt. Dass es in der Unterkunft keine Räume, noch nicht einmal Waschräume, gibt, zu denen cis Männer keinen Zutritt haben. Viele Freund_innen haben auch Fragen zu Anweisungen, die die Ausländerbehörde macht. Wie beispielsweise zu einer Zahlung von 10€ im Monat, die keine_r erklären kann.
Dann erzählt einen Frau, dass Enni, die jetzt auch unten bei uns ist, vor zwei Wochen schon zum vierten Mal abgeschoben werden sollte. Sie ist Diabetikerin, erzählt sie selber und lag vergangene Woche mit Atemnot im Bett, als eine Mitbewohnerin sie fand. Sie wollte für Enni den Notarzt über die Lagerleitung rufen, diese lehnten aber mit der Aussage ab, dass die nächsten Tage abzuwarten seien.
Enni erzählt von einem Husten, den sie von November bis Februar hatte. Als sie Blut hustete, ist sie zu ihrer Hausärztin gegangen. Diese habe sie nicht verstanden, als sie ihre blutigen Taschentücher gezeigt hat. Die Ärztin habe dann gesagt, dass das ganz normal sei. „Noch nie hat mich ein Arzt richtig angeschaut oder abgetastet, als ich da war – noch nicht einmal T-Shirt hoch“, erzählt Enni weiter. Seit einiger Zeit kann sie nicht mehr gut schlafen. Die anderen Mitbewohner_innen bestätigen, dass sie mitbekommen, dass es Enni seit einiger Zeit nicht gut geht, aber nichts passiert. Enni erzählt von Schlaflosigkeit, von Schmerzen in Brust und Rücken, von Atemproblemen und Todesangst, die sie hat und fasst es nochmals zusammen: „Ich bin eigentlich eine witzige Person, wie ein Kind spiele und lache ich, aber jetzt bin ich richtig krank. Die anderen wissen, dass ich mich nie beklage, und wenn doch, dann geht’s mir richtig schlecht.“ Wir machen uns Sorgen, weil wir alle Enni ansehen, dass es ihr nicht gut geht.
Wir gehen gemeinsam zum „Eingang“ der GU Teichweg 6: am Eingang, der aus einem Zaun mit Klingel besteht, warten schon ein paar andere und ein Security ruft zwei Leuten sichtbar ungeduldig zu, was sie denn hier wollen würden? Wir fragen Francis* und Benoit*, die am Eingang stehen, ob sie hier wohnen. Sie bejahen. Wir fragen den Security, was das Problem sei. „Die sind nicht registriert, müssen zur Ausländerbehörde“, erwidert der, ohne uns anzugucken. Überhaupt werden hier alle ignoriert, außer, Menschen machen sich bemerkbar. Später treffen wir Francis und Benoit wieder. Auch von der Ausländerbehörde wurden sie ohne die nötigen Papiere wieder weggeschickt; sie sollen in ein paar Tagen wiederkommen. Das heißt, dass sie „ein paar Tage“ ohne Gutscheine, ohne eine Möglichkeit, Lebensmittel einzukaufen, auskommen müssen. Während wir uns weiter mit Enni, Francis und Benoit unterhalten, kommen noch andere Menschen ans Tor, deren Fragen widerwillig abgefertigt werden. Eine Person kommt und fragt nach einer Überweisung für einen Zahnarzt. Der Security kommt erst gar nicht mehr an Zaun, ruft der Person von ein paar Meter Entfernung zu, sie sei gerade doch schon dagewesen. Wir bekommen mit, dass fälschlicherweise eine Überweisung zu Hausärzt_innen ausgegeben wurde und die Person eine für Fachärzt_innen braucht und deshalb vergeblich bei den Zahnärzt_innen war und jetzt nochmals los muss.
Wir entscheiden gemeinsam mit Enni, dass etwas passieren muss, dass es ihr wieder besser gehen kann. Wir sagen zum Security, dass wir gemeinsam mit der Leitung sprechen wollen. Der Sozialarbeiter T. kommt nach ein paar Minuten raus und fragt, was wir wollen. Eine von uns sagt, dass es Enni ganz offensichtlich schlecht geht und sie eine Untersuchung braucht. T. sagt, Enni hätte diesen Monat schon eine gehabt. Wir beharren darauf, dass Enni behandelt werden muss und fragen, was dafür nötig ist. T. sagt, es sei gar kein Problem, Enni könne doch jederzeit zu ihrer Hausärztin. Enni weiß den Namen der Hausärztin nicht mehr, T. rennt ins Gebäude rein, kommt nach wenigen Minuten mit einem Zettel raus, hält ihn Enni hin und sagt: „Ich fahr Dich jetzt. Unterschreib mir das hier!“ Und dann: „Einsteigen, anschnallen.“ und fährt los.
Wir fahren zu zweit hinterher. Eine Person von uns betritt hinter T. die Praxis. Er dreht sich um: „Du musst wieder raus, hier darf man nur einzeln stehen.“ Ich mache keine Anstalten zu gehen, sondern die Tür hinter mir zu. Er: „Die werden dich gleich wieder rausschicken.“ Ich zucke mit den Schultern, er beschließt, mich wieder zu ignorieren. Die andere Begleitperson wartet währenddessen mit Enni draußen, die T. einfach dort stehengelassen hat, ohne Erklärung, mit der Ansage: „Du wartest hier.“ T sagt zur Person an der Rezeption: „Ja, ich hab hier mal wieder eine, die sagt, sie hat Rückenschmerzen, das kommt bestimmt von der Matratze, aber die haben ja immer was. Ruf an, wenn die fertig ist, dann hol ich sie wieder ab.“
Enni sagt draußen, dass sie seit ihrer Ankunft nie aufmerksam untersucht wurde und ihre Schmerzen bisher nicht ernst genommen wurden. Wir gehen zu dritt rein und nehmen im Wartezimmer Platz. Enni wird aufgerufen und geht direkt zum Behandlungsraum. Eine Person von uns geht mit rein. Enni soll sich setzen, Ärztin stellt sich auf deutsch vor und weist begleitende Person an, zu übersetzen, weil sie selbst nur bruchstückhaft Englisch spricht. Enni war bisher komplett ohne Übersetzung bei dieser Ärztin gewesen. Enni beginnt von sich aus, zu erzählen. Enni sagt, dass die Rückenschmerzen dazu führen, dass sie Schmerzen in der Brust hat, nicht schlafen kann. Ich übersetze alles. Ärztin sagt etwas wie: „Ja, wir haben alle mal Rückenschmerzen.“ Ich sage ihr, dass sie Enni nochmal genauer untersuchen soll. Es ist offensichtlich, dass es Enni schlecht geht, die Haut ist aufgequollen. Ärztin weist Enni an, aufzustehen und ihr T-Shirt hochzuschieben. Ich übersetze und erkläre (Ärztin hat nichts erklärt), warum. Die Ärztin schaut mich während des Übersetzens ungeduldig an. Sie horcht an der Seite und am oberen Rücken ab und weist Enni an, tief ein und auszuatmen. Sie berührt Enni am Rücken kurz und unmotiviert und sagt, dass sie nichts auffälliges feststellen könne. Die Ärztin sagt, was denn am Rücken sein solle, Enni sei doch gerade mal 20. Enni sagt selbst, sie habe schwere Schmerzen und könne nicht schlafen und zeigt nochmal, dass ihre Haut „aufgeschwemmt“ ist. Ich sage, dass ich das selber von meiner Oma kenne, dass die Haut aufgeschwemmt ist und dass es alles mögliche sein kann. Die Ärztin wiederholt, dass Enni erst 20 sei und deshalb ausschließt, dass es etwas mit dem Herz sein könne. Enni zeigt, dass sie in der Brust Schmerzen habe. Ärztin hört daraufhin mit Stethoskop die Brust ab. Ich sage nochmal, dass doch etwas gefunden/diagnostiziert werden muss, wenn die Patientin über Schmerzen klagt und offensichtlich ist, dass es Enni nicht gut geht.
Die Ärztin willigt ein, dass Blut abgenommen und ein EKG angefertigt wird. Ich begleite Enni zum Blutabnehmen und übersetze; die Assistent_innen sprechen gar kein englisch. Wir nehmen nochmals Platz. Enni sagt, die Schwester hätte gesagt, dass am Arm etwas sei. Ich gehe zur Schwester und frage, was mit dem Blutdruck sei, der gemessen wurde. Daraufhin sagt die Schwester, dass Enni erhöhten Blutdruck habe. Als wir wieder im Wartezimmer sitzen, sagt Enni, dass es gerade schwer sei, zu Ärzt_innen oder ins Krankenhaus zu gehen, weil sie Angst hätten, dass Leute aus dem Camp Corona haben. (Enni wurde bei der Ärztin nicht auf Covid-19 getestet.) Enni wurde wieder aufgerufen, zur Ärztin zu gehen. Ich gehe mit. Enni setzt sich, ich stehe. Ärztin sagt, dass beim EKG alles in Ordnung sei, auch die Blutwerte seien gut (uns ist bis heute unklar, was getestet wurde). Urinprobe: der bereits getestete Teil sei in Ordnung, den Urin haben sie außerdem ins Labor geschickt; das Ergebnis käme in wenigen Tagen. Blutdruck sei etwas hoch, aber das könne auch an ihr (Ärztin) liegen, sie sei ja der „Aggressor“. Sie sagt, sie könne sich nur erklären, dass es mit dem Magen/der Speiseröhre zusammen hinge, das passiert schonmal, dass es dann brennt.
Enni beschreibt erneut ihre Schmerzen, aber die Ärztin meint erneut, es könne nur der Magen sein und Enni bekommt bereits Medizin für den Magen; diese solle sie statt einmal nun zweimal am Tag nehmen. Enni wiederholt, sie habe Schmerzen. Ich frage daraufhin die Ärztin, ob es nicht möglich sei, Schmerzmittel zu verschreiben. Sie willigt ein, Schmerzmittel zu verschreiben. Zu den Medikamenten (Einnahme, Menge) erklärt sie nichts. Wir versuchen es anschließend dem Rezept zu entnehmen und übersetzen für Enni ins Englische. Ich sage noch, dass wir gerne die Werte der Untersuchung mitnehmen wollen. Sie geben uns das ausgedruckte EKG. Die Assistentin sagt, sie habe T. angerufen, der Enni abhole.
Wir verlassen die Ärzt_innenpraxis. Enni und wir haben das Gefühl, dass sich die Ärzt_innen die Werte nicht richtig anschauen und die Schmerzen nicht ernst nehmen und versichern, es unseren Freund_innen zu zeigen, die Mediziner_innen sind.
Wir sind entsetzt über die Zustände im Lager Teichweg 6, Bernburg. Beim letzten Mal hatten wir schon die hygienischen Missstände, das aggressive Sicherheits-Personal der Firma LENDEX Security and Consulting und die fehlenden Rückzugsräume für Frauen und andere vulnerable Personen beobachtet [1]. Diesmal begleiteten wir eine Freundin mit chronischen Erkrankungen, die noch Ende März nach Italien (!) abgeschoben werden sollte, zu einer Ärztin.
Was wir hier beobachten, steht nur beispielhaft für die Gefahr, die von einer rassistischen Gesundheits-Versorgung ausgeht. Dass schwer kranke Menschen nicht ernst genommen werden, ist nicht nur fahrlässig, sondern lebensgefährlich. Dass sie von einer Ärztin behandelt werden, mit der sie keine Sprache teilen, ist lebensgefährlich. Dass sie Medikamente verschrieben bekommen, und in keiner Weise über Dosierung oder Nebenwirkung aufgeklärt werden, ist lebensgefährlich. Dass sie statt Geld nur Gutscheine bekommen, mit der sie aber in keiner Apotheke bezahlen können, ist lebensgefährlich. Dass sie – besonders als Risikogruppe – in Zeiten von Corona personalisierte Gutscheine bekommen, ist lebensgefährlich. Dass sie in Zeiten von Corona ohne grundlegende Schutz-Vorkehrungen wie Masken auf dem engstem Raum zusammenleben müssen, ist lebensgefährlich.
Auch ohne Corona, auch ohne chronische Krankheiten, ist die Unterbringung in Lagern und die ständige Bedrohung durch Abschiebungen immer wieder tödlich. Seit Inkrafttreten der Quarantäne in Halberstadt und der Proteste durch Bewohner_innen warten Lagerleitung, Kreisverwaltung und Landesregierung weiter ab, dass das Virus immer mehr Menschen infiziert, statt die Forderungen [2] umzusetzen: Transfer! Dezentrale Unterbringung und Bewegungsfreiheit jetzt!
Solidarität endet nicht mit den Grenzen der #NachbarschaftsChallenge, vergessen wir nicht die Menschen in den Knästen, den Lagern, auf den Straßen, vor den Mauern Europas. Wir teilen den Aufruf [3] von We’ll Come United, der Medinetze und Flüchtlingsräte von vor fast einem Monat: Gesundheitsversorgung heißt Lager schließen! Infektionsschutz für alle statt rassistischer Segregation!
* Alle Namen wurden selbstverständlich geändert.
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