[Halberstadt] Die Gewalt ist strukturell!
15.4.2020
Gemeinsames Statement von Bewohner*innen und vom Antirassistischen Netzwerk Sachsen-Anhalt zur Gewalt in der ZASt Halberstadt
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In der Nacht von Sonntag auf Montag kam es in der „Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZASt)“ in Halberstadt zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen einigen Bewohner*innen. Diese Ereignisse wurden von der Presse polarisierend dargestellt und insbesondere Rechte schlachten die Vorkommnisse aus.
Unbeachtet bleibt jedoch, welchen Umständen Geflüchtete – nicht nur während der Corona-Pandemie – ausgesetzt sind: keine Privatsphäre, kein selbstbestimmter Alltag, Angst und Isolation prägen das Leben im Lager. Und zwar immer.
Aus struktureller Gewalt wird körperliche Gewalt
Physische Auseinandersetzungen in Lagern sind allgegenwärtig und eine logische Konsequenz: Eine Flucht nach Europa ist eine Aneinanderreihung extrem belastender Momente, denen eine potentiell traumatische Situation im Heimatland vorausgeht. In Europa angekommen, werden Menschen mit teils jahrelanger Gewalterfahrung beengt in Camps und Lagern untergebracht, in Ungewissheit und ohne die Möglichkeit, Erlebtes zu verarbeiten. Ohne nötige Gesundheits- und Hygienemaßnahmen, die Möglichkeit, Essen selbst zuzubereiten oder Gegenstände des täglichen Gebrauchs selbst einzukaufen, erleben Geflüchtete in Lagern insbesondere die Quarantäne-Maßnahmen als unhaltbar. Extreme psychische Belastung und Anspannung kann dann zu körperlichen Auseinandersetzungen führen – unabhängig von Pass und Herkunft. Zu beobachten ist schließlich auch, dass seit der Corona-Pandemie Frauenhäuser aus allen Nähten platzen und häusliche Gewalt auch in deutschen Haushalten eine massive Gefahr darstellt.
Mangelhafte Versorgung, chaotische Zustände und Infektionsgefahr in der ZASt
Die Situation in Halberstadt ist zurzeit besonders angespannt. Auf engstem Raum und bei schlechter Versorgung sind die Bewohner*innen dauerhaft isoliert und einer Ansteckung mit dem Corona-Virus ausgesetzt. Sie befinden sich seit dem 27. März dauerhaft in Quarantäne. Die Situation im Lager war schon vor der Corona-Pandemie schwer zu ertragen. Viele der über 800 Bewohner*innen sind schon seit Monaten dort untergebracht und berichten von Gewalt durch Polizei und Securities, von der ständigen Bedrohung durch Abschiebung, von Traumata, Angst, Isolation und Perspektivlosigkeit. Vier bis sechs Menschen teilen sich ein Zimmer, 850 Menschen teilen sich wenige Duschen, Toiletten und Küchen.
Die schlechte Versorgungslage wurde auch nach den Protesten der letzten Wochen nicht behoben. Es fehlt noch immer an Grundnahrungsmitteln und Hygiene-Artikeln. Das Schlimmste wird gegenwärtig noch durch Spenden von verschiedensten Organisationen und Einzelpersonen abgewendet. Allerdings kann das keine Dauerlösung sein.
Isolation, Angst und Gewalt prägen den Alltag
Die Geflüchteten werden im Lager isoliert und eingesperrt. Sie fühlen sich wie Häftlinge. Gleichzeitig wird der Kontakt zu solidarischen Menschen und Unterstützungsstrukturen verhindert. Schließlich sind es diese Strukturen, die den reibungslosen Ablauf der Gewalt und Entrechtung stören und die Stimme und Forderungen der Bewohner*innen sichtbar machen.
Ein Bewohner der ZASt schildert die Situation so:
„Das Lager muss geschlossen werden oder die Gesetze müssen geändert werden. Das Leben in diesem beschissenen Lager ist nicht gut für die eigene körperliche und psychische Gesundheit. Vor allem für Erwachsene mit Familie und Kindern, die ein würdiges Leben führen wollen. Die meisten Menschen kommen gesund an und wenn sie hier wie Hunde zusammengesteckt werden, werden sie krank, wegen der unannehmbaren Toiletten und Duschen. Teilweise teilen täglich 500 Menschen 3 Toiletten, das ist ungesund und unmenschlich.
Im ganzen Block A funktionieren seit drei Monaten nur noch zwei Toiletten und nichts wird getan, um das zu ändern. Und wenn die Leute wütend oder frustriert sind, schickt die deutsche Regierung Polizei, statt mit den Asylsuchenden zu kommunizieren.“
Nein zum Lager – in Halberstadt und überall
Dass es in dieser Situation früher oder später zu gewaltvollen Auseinandersetzungen auch unter Bewohner*innen kommen würde, war absehbar und hätte durch eine dezentrale Unterbringung womöglich verhindert werden können. Nur ein Bruchteil der Bewohner*innen war an diesen Auseinandersetzungen beteiligt und das daraus entstehende Bedrohungsgefühl ist vor allem für vulnerable Personengruppen wie Frauen*, Kinder, Homosexuelle, Trans* und ethnische Minderheiten belastend.
Es ist besonders wichtig, jetzt solidarisch zu sein, Stereotypisierungen zurückzuweisen und abermals auf die untragbaren Zustände in der ZASt aufmerksam zu machen: die Gewalt geht nicht von den Bewohner*innen der ZASt aus – die Gewalt entsteht durch und im Lager!
Gegen jede Form von Lagerunterbringung, dezentrale Unterbringung jetzt – wir fordern die Schließung der ZASt und aller anderen Lager!
[Englisch]
The violence is structural!
Statement by residents and the Antiracist Network Saxony-Anhalt on the violence at ZASt Halberstadt
During the night from Sunday to Monday, physical clashes occurred between some residents at the „Central Reception Center for Asylum Seekers (ZASt)“ in Halberstadt. These events were polarized by the press and right-wing groups in particular are instrumentalizing the incidents.
However, the circumstances to which the refugees are exposed – not only during the Corona pandemic – remain unnoticed: No privacy, no self-determined everyday life, fear and isolation characterize life in these Lagers (camps). Always.
Structural violence transforms into physical violence
Physical confrontations in camps are omnipresent and a logical consequence: Being on the run and fleeing to Europe is a sequence of extremely stressful incidents preceded by a potentially traumatic situation in the country of origin. Once in Europe, people who went through years of experiencing violence are confined to camps and Lagers, in uncertainty and without the possibility to process what they have experienced. Without the necessary health and hygiene measures, without the possibility to prepare food themselves or to buy everyday items, refugees in camps experience the situation, and especially the current the quarantine measures, as untenable. Extreme psychological stress and tension can then lead to physical confrontations – regardless of passport and origin. Just like it can be observed that since the Corona pandemic women’s shelters are overcrowded and domestic violence is currently an increasing danger in German households.
Insufficient supply, chaotic conditions and risk of infection at ZASt
The situation in Halberstadt is particularly tense at the moment. In a confined space and with insufficient supplies, the residents are isolated and exposed to infection with the corona virus. They have been in permanent quarantine since 27th of March. The situation in the camp was already difficult to bear before the Corona pandemic. Many of the more than 800 residents have been housed there for months and report violence of police and security personnel. They live under the constant threat of deportation, in trauma, fear, isolation and lack of prospects. Four to six people share one room, 850 people share a few showers, toilets and kitchens.
Even after the protests of the last few weeks, the poor supply situation has not been improved. There is still a lack of basic food and hygiene articles. The worst is currently still being averted by donations from various organizations and individuals. This cannot be a permanent solution.
Isolation, fear and violence characterize everyday life
The refugees are isolated and locked up in the camp. They feel like prisoners. At the same time, contact with people in solidarity and support structures is prevented. After all, it is these structures that disrupt the flow of violence and discrimination and make the voice and demands of the inhabitants visible.
A resident of the ZASt describes the situation like this:
„The camp must be closed or the laws changed. Life in this shitty camp is not good for our physical and mental health. Especially for adults with family and children who want to live a decent life.
Most of the people arrive healthy and when they are put together here like dogs they get sick because of the unacceptable conditions of the toilets and showers. Sometimes 500 people share 3 toilets every day, which is unhealthy and inhuman.
In the whole block A only two toilets have been working for three months and nothing is being done to change that. And when people are angry or frustrated, the German government sends the police instead of communicating with the asylum seekers.“
Against Lagers – Close the camps in Halberstadt and everywhere
It was foreseeable that in this situation, sooner or later violent clashes would occur among residents which could possibly have been prevented by decentralized accommodation. Only very few of the residents were involved in these conflicts, but the resulting feeling of threat is particularly traumatizing for vulnerable groups such as women, children, homosexuals, trans and ethnic minorities.
It is especially important to show solidarity, to reject stereotyping and to draw attention to the intolerable conditions in the camp: The violence does not originate from the inhabitants of the camp – the violence is caused by and in the camp!
Against any form of camp accommodation; decentralized accommodation now – we demand the closure of the ZASt and all other camps!