Brücken statt Blockaden! Ein Europaweiter Aufruf


Für Gerechtigkeit und Solidarität mit allen Menschen auf der Flucht – Freiheit für Carola Rackete und die IUVENTA 10!
Mit folgender Erklärung greifen wir – medico international, kritnet, Seebrücke und Sea Watch – den Appell des Comité Européen contre la Criminalisation du Sauvetage en Mer (CECCSM) auf, der am 27. Juni von französischen Wissenschaftler*innen unter der Initiative von Etienne Balibar in Le Monde unter dem Titel «Sea-Watch 3: C’est maintenant qu’il faut inverser la destruction du droit et de l’humanité» publiziert wurde und dem sich am 28. Juni italienische Wissenschaftler*innen in Il Manifesto anschlossen. Wir reihen uns hiermit ein in die europäische Allianz gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung.
INTERNATIONALER AUFRUF
Im Mittelmeer hat die Sprache der Abschreckung und der Hysterie – die Sprache der europäischen Abschottungspolitik – neue Ausmaße erreicht. Matteo Salvini hat die Inhaftierung von Carola Rackete, der Kapitänin von Sea Watch 3, angeordnet. Er wirft ihr “militärische Rebellion” vor und bezeichnet sie als “Gesetzlose”. Ihr Boot wurde auf seinen Befehl hin als “Piratenschiff” beschlagnahmt, den Besitzer*innen droht nun eine Strafe von bis zu 50.000 Euro. Dies ist eine Schande und entbehrt jeder Vernunft. Auf eklatante Weise steht Salvinis Verhalten im Widerspruch nicht nur zu internationalem Recht, sondern auch zu den grundlegenden Prinzipien, auf denen die demokratische Legitimität der Staaten der Europäischen Union beruht. Wer diese Politik nicht zu stoppen bereit ist, nimmt gefährliche Konsequenzen in Kauf.
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Carola Rackete hat als Kapitänin der Sea Watch 3 entschieden, sich über die von den italienischen Behörden errichtete Hafenblockade hinweg zu setzen. Sie hat im Hafen von Lampedusa angelegt, um ihre 42 Passagiere in Sicherheit zu bringen. Zwei Wochen lang hatte sie auf eine eindeutige Entscheidung der EU gewartet und vergeblich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte appelliert. Schließlich hat sie einfach ihre Pflicht getan und das Risiko, dafür verhaftet zu werden, in Kauf genommen. Es ist ganz und gar inakzeptabel, dass sie für ein Verhalten bestraft werden soll, das internationalem und maritimem Recht folgt. Europäische Bürger*innen und ihre Regierungen müssen sofort die illegale, beschämende Festsetzung des Rettungsschiffes und seiner Mannschaft unterbinden.
Zur gleichen Zeit werden die IUVENTA10 und deren Kapitänin Pia Klemm vor italienische Gerichte gebracht, weil sie tausenden Menschen das Leben gerettet haben. Den IUVENTA10 wird vorgeworfen, “illegale” Migration zu unterstützen und mit “Schleppern” zusammen zu arbeiten. Der gesamten Crew drohen 20 Jahre Gefängnis sowie eine Strafe von 15.000 € für jedes gerettete Menschenleben. Viele Menschen in Europa und weltweit sind darüber aufgebracht. Aber unsere Regierungen ignorieren schlicht, was passiert. Die Retter*innen sollen von humanitären Aktionen abgeschreckt werden. Doch viele werden diesen mutigen Beispielen folgen, um das Massensterben im Mittelmeer zu stoppen. Ein Massensterben, das unter Mittäterschaft aller europäischen Staaten weitergeht.
Wir, die Unterzeichnenden, fordern die italienische Regierung auf, Vernunft anzunehmen, die Anklagen zurückzuziehen, Kapitänin Rackete sofort freizulassen und das beschlagnahmte Schiff seine dringende Mission wieder aufnehmen zu lassen. Wir fordern, dass Italien die Männer, Frauen und Kinder aufnimmt, die vor Krieg und Ertrinken gerettet wurden, und ihre Asylanträge in Zusammenarbeit mit NGOs und anderen europäischen Institutionen sachgerecht bearbeitet. Wir bestehen darauf, dass die Kriminalisierung derer beendet wird, die die Menschenrechte solidarisch verteidigen. Wir verurteilen die rassistische Propaganda in Italien und anderswo, die Flucht und Migration zum zentralen Problem reicher Gesellschaften erklärt.
Wir rufen das neu gewählte Europäische Parlament auf, Regelungen vorzuschlagen, die den Geflüchteten im Sinne der Genfer Konvention Asyl und Schutz gewähren und endlich eine faire Verteilung der Menschen auf die Mitgliedsstaaten der EU gewährleisten. Die Europäische Kommission soll entsprechende Regelungen erlassen, und die europäischen Regierungen sollen sie umgehend umsetzen. Es ist höchste Zeit, dass Europa seiner kollektiven Verantwortung gerecht wird, seine moralische Glaubwürdigkeit wiederherstellt und seine politische Handlungsfähigkeit beweist. Die EU muss die internationalen SOLAS- und SAR-Konventionen befolgen, die es zur Pflicht machen, gerettete Menschen an einen sicheren Ort zu bringen. Dass auf solche Selbstverständlichkeiten überhaupt hingewiesen werden muss, sagt alles zum Zustand der europäischen Politik.
Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen vor diesem Hintergrund erklären, dass Libyen und Tunesien derzeit keine “sicheren Länder” sind, in die Geflüchtete zurückgeschickt werden können. Sie müssen ihre Rettungsmissionen im Mittelmeer wiederaufnehmen und sie müssen endlich damit aufhören, die so genannte libysche “Küstenwache” zu finanzieren und auszubilden, die im Namen der Schlepperbekämpfung Geflüchtete jagt und foltert. Alles andere ist schlichtweg kriminell. Die Europäische Union darf den aktuellen Kurs der Heuchelei, Feigheit und Dummheit nicht weiter fortsetzen. Unter dem Vorwand, interne Konflikte zu verhindern, entfacht dieser Kurs die Konflikte weiter, zerstört die Zukunft der EU – und tötet Menschen, jeden Tag von Neuem.
Schließlich appellieren wir an unsere europäischen Mitbürger*innen, sich den gegen Migrant*innen und Geflüchtete gerichteten Politiken der Feindschaft aktiv zu widersetzen. Während die Politik der Feindschaft in Italien schamlos offen propagiert wird, stehen die anderen europäischen Länder dem letztlich in nichts nach. Wir rufen unsere Mitbürger*innen auf, ihre Solidarität mit Carola, Pia und den von ihnen geretteten Geflüchteten zu zeigen. Während Matteo Salvini und die Seinen Schande über uns bringen, sehen wir im Handeln dieser mutigen Frauen und ihrer Crews eine Ehre für unseren Kontinent. Wir müssen ihre Freilassung und ihren Freispruch erreichen und uns ihrem Kampf anschließen. Es ist ein harter Kampf, ein Kampf gegen die herrschende Politik, aber sein Ziel ist unanfechtbar: Gegen Unterdrückung, gegen fremdenfeindliche Hetze und Rassismus, für universelle Rechte und Gastfreundschaft, für das Recht auf Bewegung und den Schutz von Menschenleben.
Wir stehen an der Seite derer, die sich vor allen anderen für Gerechtigkeit und Solidarität einsetzen. Wir werden nicht weiter schweigend zusehen!
ERSTUNTERZEICHNENDE
Matthias Altenburg, Schriftsteller
Prof. Dr. Etienne Balibar, Anniversary Chair of Modern European Philosophy, Kingston University
Dr. Joachim Baur, Die Exponauten
Prof. Dr. Bernd Belina, Goethe-Universität Frankfurt
Prof. Dr. Micha Brumlik, Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin/Brandenburg
Prof. Dr. Encarnacion Gutierrez Rodriguez, Justus-Liebig-University Gießen
Dr. Dirim Inci, Universität Wien
Corinna Harfouch, Schauspielerin
Prof. Dr. Sabine Hark, TU Berlin
Prof. Dr. Sabine Hess, Direktorin des Center für globale Migrationsforschung der Universität Göttingen
Prof. Dr. Rahel Jaeggi, FU Berlin
Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, Universität Bremen
Heiko Kaufmann, Mitbegründer von Pro Asyl
Wolfgang Lemb, Vorstandsmitglied IG Metall
Prof. Dr. Stephan Lessenich, Ludwig-Maximilian Universität München
Prof. Dr. Paul Mecheril, Universität Bielefeld
Thomas Meinecke, Schriftsteller
Hanna Mittelstädt, Verlegerin Edition Nautilus
Apl. Prof. Dr Jochen Oltmer, Universität Osnabrück
Jean Peters, Peng! Kollektiv
Alex Rühle, Journalist SZ
Dr. Philipp Ruch, Zentrum für Politische Schönheit
Prof. Uta Ruppert, Goethe-Universität Frankfurt
Ingo Schulze, Schriftsteller
Prof. Dr. Gesine Schwan, Berlin
Prof. Fatima EL-Tayeb, University of California, San Diego
Dr. Mark Terkessidis, Freier Autor
Klaus Theweleit, i.R., Staatl. Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe
Dr. Christian Weis, Geschäftsführer medico international e.V.
Prof. Dr. Harald Welzer, Direktor von Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit