[Halberstadt] Wer trägt die Verantwortung für den Bruch des Infektionsschutzes in der ZASt?


Offener Brief des Antirassistischen Netzwerk Sachsen-Anhalt an die politisch Verantwortlichen
9.4.2020
Brief als pdf / Deutsch
Open letter / Lettre ouverte / خطاب مفتوح / Açık mektup
Vorab: Die Quarantäne wurde für alle Bewohner*innen bis auf den 21. April verlängert. Bisher haben sich 44 Menschen mit dem Corona-Virus infiziert.
Die streikenden Geflüchteten setzten ihren Hungerstreik und friedlichen Protest fort, sowohl in der ZASt, als auch in der Quarantäneunterbringung in Quedlinburg. Die zentrale Forderung der Streikenden ist eine dezentrale Unterbringung anstatt unter hohem Ansteckungsrisiko mit hunderten anderen Menschen zusammengepfercht verbleiben zu müssen. Inzwischen wurde auch klar, dass es, wider anderen Behauptungen, durchaus einen Mangel an Lebensmitteln und Hygieneartikeln gibt, vor allem auch für Babys und Kleinkinder. Spenden und Unterstützung wurden nicht nur vom Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt erbeten, sie sind dringend nötig. Da die bisherigen Gespräche mit der Leitung der ZASt zu keinem Ergebnis führten, haben die Streikenden Gespräche mit den politisch Verantwortlichen gefordert. Weitere Verhandlungen mit der Leitung der ZASt lehnen sie ab. Es bleibt die Frage, welche Konsequenzen aus der verantwortungslosen Situation gezogen und welche Schritte nun konkret unternommen werden, um die menschenunwürdigen Zustände zu beenden.

Es ist begrüßenswert, dass Sie Herr Henke, Oberbürgermeister der Stadt Halberstadt, ihre Unterstützung zur Klärung der Situation angeboten haben. Wie im Falle der Schließung von Schulen, Kindergärten und Betrieben ist auch hier Ihr couragiertes Einschreiten nötig, um die Ausbreitung des Virus, mögliche schwere Krankheitsverläufe oder gar die ersten Todesfälle untern den BewohnerInnen in der ZASt zu verhindern. Sie könnten Geschichte schreiben, wenn Sie als der deutsche Oberbürgermeister in die Geschichte eingingen, der dem elenden Lagersystem ein Ende bereitet hat. Sie könnten größte Anerkennung für die Schließung der ZASt und die dezentrale Unterbringung Geflüchteter gewinnen. Rückendeckung erhalten Sie sicherlich von einigen Ihrer Parteigenoss*innen. Lassen Sie also ihren Worten Taten folgen und treten Sie mit den Hungerstreikenden in der ZASt in Kontakt.
Deutlichere Worte richten wir an Sie, Herrn Stahlknecht, Innenminister Sachsen-Anhalts und an Sie, Herrn Szarata, CDU-Landtagsabgeordneter aus Halberstadt. Sie, Herr Stahlknecht, haben sich eindeutig gegen eine dezentrale Unterbringung von Geflüchteten positioniert. Während Großbetriebe, Universitäten, Schulen, Restaurants geschlossen sind, pferchen Sie hunderte von Menschen auf engstem Raum zusammen. Ist Ihnen klar, dass Sie damit als Innenminister selbst gegen den gebotenen Infektionsschutz verstoßen? Würden Sie im Falle von schweren Erkrankungen oder Corona-Toten in der ZASt persönlich für diese haften? Diese Covid-19 Erkrankten oder gar Tote wären im Zweifel durch eine dezentrale Unterbringung vermeidbar gewesen – der Platz dafür ist vorhanden! Bitte äußern Sie sich dazu! Treten Sie mit dem Hungerstreik-Komitee in Kontakt!

Herr Szarata hingegen kann nur erwidert werden: Wenn Sie die Zustände in der ZASt als „immer noch sehr menschlich“ betiteln, sind Sie sicher dazu bereit, einmal auszuprobieren, wie sich das Leben unter den aktuellen Bedingungen in der ZASt anfühlen. Die Regeln sind einfach: Wir liefern Ihnen eine Woche lang die „Verköstigung“ aus der ZASt und Sie und Ihre Familie ernähren sich ausschließlich davon. Auch dürfen Sie in dieser Zeit gerne Ihre private Toilette mit 50 Besucher*innen unserer Wahl teilen. Wenn das „sehr menschliche“ Zustände sind, kann das doch kein Problem für Sie darstellen oder?
Darüber hinaus sind Ihre Behauptungen, es gäbe keinen Hungerstreik, haltlos. Waren Sie in den letzten vierzehn Tagen vor Ort? Oder wie erklären Sie sich, dass seit letztem Samstag eine Gruppe von Menschen täglich ihr Essen auf den Boden legt, keine Nahrung zu sich nimmt und lautstark für eine dezentrale Unterbringung protestiert? Sicherlich haben Sie es noch niemals wirklich versucht, sich in vor Krieg und Elend geflüchtete Menschen hineinzuversetzen. Wurden Sie nach der Flucht vor einem diktatorischen Regime schon einmal wie Gefangene in einem Freiluftgefängnis behandelt? Darum behaupten Sie auch, die Zustände in der ZASt seien immer noch „sehr menschlich“ und die Bewohner*innen seien bloß „Gäste“, die sich benehmen sollen. Ist es u.a. menschlich, schwangere Frauen zu attackieren? Ist das Ihr Verständnis von christlicher Nächstenliebe?
Mit einem haben Sie hingegen Recht: Friedlicher Protest und Dialog sind bewährte Mittel. Geflüchtete in der ZASt protestieren seit Samstag Nachmittag so friedlich, wie es ihnen möglich ist unter den miserablen Zuständen. Fragen Sie sich selbst, was Sie tun würden, wenn Sie in dieser Situation unter diesen Umständen befinden würden?
Anstatt sich dafür einzusetzen, dass von Seiten der Polizei zukünftig konsequent gegen Proteste von Geflüchteten vorgegangen wird, setzen Sie sich lieber dafür ein, menschenwürdige Bedingungen für die Geflüchteten zu schaffen! Verbessern Sie kurzfristig die hygienische Situation, machen Sie das Abstandhalten möglich und versorgen Sie die Menschen angemessen mit Nahrung – das wäre ein Akt Ihrer christlichen Nächstenliebe. Setzen Sie sich langfristig für eine dezentrale Unterbringung der Menschen ein! Ansonsten müssen Sie sich fragen lassen, was Sie tun werden, wenn unter Ihrer Politik Menschen in der ZASt an COVID-19 erkranken oder sterben sollten? Übernehmen Sie dann die Verantwortung für Ihre populistische und völlig verdrehte Darstellung?
An die ZASt-Leitung, Herr Stein und Frau Jung, können wir nur appellieren: Sie sind unmittelbar und persönlich für die Geschehnisse in der Massenunterkunft mitverantwortlich. Wie werden Sie sich fühlen, wenn die Lage weiter eskaliert und es zu schweren Corona-Erkrankungen oder gar Todesfällen kommt, weil Sie nicht korrekt gehandelt haben? Warum argumentieren Sie im Sinne des des Infektionsschutzes nicht öffentlich für eine sofortige Dezentralisierung der Menschen und eine Auflösung der ZASt? Können Sie einen periodisch wiederkehrenden Quarantänezustand verhindern? Sind Sie wirklich bereit, die Fehler der Politik auf sich zu nehmen?
Unsere Forderungen lauten wie folgt:
1. Die oben genannten Amtsträger mögen sich vor dem 15. April zu all den Fragen äußern, die Ihnen oben gestellt wurden!
2. Nehmen Sie die Forderungen der Streikenden an!
3. Die dezentrale Unterbringung muss ab dem 15. April für sämtliche Bewohner*innen der ZASt eingeleitet werden!
4. Der mehrfach durch Gewalttaten gegen Bewohner*innen auffällig gewordene Sicherheitsdienst der ZASt muss seinen Betrieb bis zum 1. Mai einstellen!
5. Wir fordern eine sozial verträgliche Auflösung der ZASt für alle! Die nach Schließung der ZASt ohne Arbeit dastehenden Mitarbeiter*innen müssen sofort von der Stadt neue Stellen angeboten bekommen, die ihren Qualifikationen entsprechen. Oder sie müssen angemessen kompensiert werden. Infizierte Mitarbeiter*innen müssen einen Sonderbonus sowie die nötige medizinische Behandlung erhalten!
6. Wir bekräftigen unsere Forderungen im offenen Brief vom 4.4.2020
Antirassistisches Netzwerk Sachsen-Anhalt, 9.4.2020
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E-Mail: antiramd[at]riseup.net