*Eingeteilt und ausgeschlossen – zur Lebenssituation von Asylsuchenden und Geduldeten in Deutschland.*
*- Ein Gastessay von Julia Solinski -*
16 Bundesländer, eine offene Außengrenze. So stellt sich die Bundesrepublik
für einen Großteil der in Deutschland lebenden Menschen dar. Nicht aber für
Asylsuchende und Geduldete. 600 Parzellen und ebenso viele geschlossene
Grenzen prägen ihren Alltag. Der Grund: die ihnen auferlegte
Residenzpflicht. Die Konsequenz: Die Betroffenen leben jahrelang isoliert
von der restlichen Bevölkerung in schwierigsten sozialen Verhältnissen und
oftmals heruntergekommenen Unterkünften.
*Julia Solinski lebt in Halle und studiert Politikwissenschaft im
fortgeschrittenen Stadium; seit Jahren an Fragen der Migrationspolitik
interessiert, verfolgt sie besonders die Bemühungen der lokalen Gruppe ‚no
lager‘ und der ‚Initiative Möhlau‘.*
alle Bilder zeigen die (nur noch zum Teil bewohnte) Sammelunterkunft in
Möhlau, Landkreis Wittenberg (aufgenommen von No Lager Halle).
Seit der Wiedervereinigung sind innerdeutsche Grenzen für deutsche
Staatsbürger*** kein Thema mehr. Mittlerweile reist man nicht mehr nur, man
pendelt regelmäßig zwischen Arbeit, Freunden und Familie quer durch die
Republik. Wer heute an der Grenze zwischen zwei Bundesländern nach den
Ausweispapieren gefragt würde, wäre sicherlich schockiert. Dennoch
existieren in Deutschland solche schwer überwindbaren Grenzen. Für
asylsuchende und geduldete Menschen ohne deutschen Ausweis besteht die
Bundesrepublik aus über 600 Bezirken, in denen jeweils eine
Ausländerbehörde zuständig ist. Ohne schriftliche Erlaubnis ist es
Asylsuchenden und Geduldeten untersagt,den Wirkungskreis der für sie
zuständigen Behörde zu verlassen. Die rechtliche Basis ist im
Asylverfahrensgesetz verankert, demzufolge diese Menschen seit 1982 dem
Gesetz zur räumlichen Beschränkung unterliegen, das auch als
Residenzpflicht bezeichnet wird. Für Asylsuchende und Geduldete ist
Deutschland damit ein Flickenteppich aus Bezirken; jeder umgeben von einem
unsichtbaren Zaun, dessen Höhe von den Beamten der einzelnen
Ausländerbehörden bestimmt wird. Denn die Erlaubnis zum Verlassen eines
Bezirkes ist an Bedingungen geknüpft, die von Behörde zu Behörde variieren.
Eine einheitliche Handhabung fehlt.
Das Deutschland der Asylsuchenden und Geduldeten unterscheidet sich markant
von dem Land, welches die deutschen Staatsbürger bewohnen. Wie die
folgenden Ausführungen zeigen werden, lebt diese Gruppe von Menschen
rechtlich in einem Ausnahmezustand, der oft Jahre und Jahrzehnte anhält.
Die mit der Residenzpflicht verfolgten Ziele und die verwendeten Mittel
erweisen sich bei näherer Betrachtung als unverhältnismäßig, und wie sich
zeigen wird, sogar uneffektiv.
Vor allem der sehr restriktive Umgang mit der Vergabe einer
Verlassenserlaubnis, in Verbindung mit der zwangsweisen Unterbringung in
abgelegenen Sammelunterkünften, drängt Asylsuchende und Geduldete geradezu
aus dem öffentlichen Raum. Ihre Situation wird künstlich prekarisiert, um
sie und eventuell Nachkommende von der Immigration nach Deutschland
abzuschrecken. Diese Art der Verdrängung ist das Merkmal einer Politik, die
sich strikt gegen Einwanderung und Einwanderer richtet – vor allem gegen
solche Einwanderung, die vermeintlich nicht in die Verwertungslogik passt.
Pointiert formuliert es der Soziologe Zygmunt Baumann: „Die Staatsmänner
[…] verwenden einen Großteil ihrer Zeit und ihrer Hirnkapazität darauf,
immer ausgefeiltere Mechanismen zur Grenzsicherung zu entwerfen sowie die
zweckdienlichsten Verfahren zu entsinnen, mit deren Hilfe man diejenigen
wieder loswird, denen es auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft trotzdem
gelungen ist, die Grenzen zu überwinden“ (Baumann 2008: 20). Angesichts
dessen wirkt der Begriff des Residierens mit seiner positiven Konnotation
von Wohlstand und Luxus geradezu zynisch.
Im Griff der Behörde
Politisch Verfolgte haben in Deutschland einen verfassungsrechtlichen
Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte und somit auf eine
Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis (Art. 16a [1], GG). Die Prüfung, ob
Asylsuchende in ihrem Herkunftsland politisch verfolgt sind, gehört zu den
Aufgaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und wird in einem
Asylverfahren auf der Grundlage des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG)
vollzogen. Innerhalb dieses Gesetzes finden sich in den Artikeln 56, 58 und
59 die Regelungen zur räumlichen Beschränkung sowie zur Erteilung einer
Verlassenserlaubnis. Der Aufenthalt von asylsuchenden Menschen in
Deutschland ist auf den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde beschränkt,
den sie grundsätzlich nur mit Erlaubnis der Behörde oder des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge verlassen dürfen. Eine ähnliche, auf ein
Bundesland beschränkte Regelung gilt nach dem Aufenthaltsgesetz für
abgewiesene, aber geduldete Asylsuchende (§61 [1], AufenthG).
Von der Residenzpflicht betroffen sind zum einen Asylbewerber, über deren
Fall noch nicht entschieden worden ist, sowie solche, die auf das Ergebnis
ihres Einspruchs gegen ein abgelehntes Asylgesuch warten. Zum anderen
zählen dazu sogenannte Geduldete, deren Asylgesuch endgültig abgelehnt
wurde, deren Ausreise jedoch aus verschiedenen Gründen bisher nicht
erfolgen konnte. Im Jahr 2010 wurden rund 39.000 Asylsuchende und 87.000
Geduldete gezählt, ein Tiefstwert ganz im Zeichen des jahrelangen Trends
sinkender Einwanderungszahlen.
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2011): Die Bezirkseinteilung der
Ausländerbehörde.
Deutschland ist in rund 600 Bezirke eingeteilt, die jeweils von einer
Ausländerbehörde verwaltet werden. Mit der Überschreitung der Grenze einer
zugewiesenen Parzelle, ob für eine Woche oder eine Stunde, verstoßen
Betroffene gegen die Residenzpflicht. Um dennoch ausreisen zu können, muss
eine Erlaubnis beantragt und bewilligt werden. Bei der Ausreise ohne
Verlassenserlaubnis machen sich Betroffene strafbar. Die Folgen können
Geldbußen oder sogar Freiheitsentzug sein. So wurde der Kameruner Felix
Otto am 13. Dezember 2008 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, weil er
wiederholt außerhalb des ihm zugewiesenen Bezirkes aufgegriffen worden war.
Der Fall steht beispielhaft für ein Verbrechen, das in Deutschland allein
von Asylsuchenden und Geduldeten begangen werden kann. Die Polizeiliche
Kriminalstatistik fasst all diese Vergehen unter den Straftaten
nicht-deutscher Tatverdächtiger zusammen und weist derartige Verstöße, die
ausschließlich von nicht-deutschen Staatsbürger begangen werden können,
nicht gesondert aus. Diese Kriminalisierung spielt allen in die Hände, die
Argumente für eine schärfere Einwanderungspolitik suchen.
Alles andere als EASY going
Wie die Regelungen im konkreten Fall wirken, wird erst im Kontext der
Auslegungspraxis der jeweiligen Behörden deutlich. Tatsächlich existieren
sehr weite Spielräume innerhalb derer die Verantwortlichen entscheiden
können. Um dies zu verdeutlichen, muss man sich die Grundsätze, gemäß
denen Asylsuchende innerhalb Deutschlands aufgeteilt werden, sowie die
Regeln für die Erteilung einer Verlassenserlaubnis näher ansehen.
Schaffen es Geflüchtete über die deutsche Grenze und beantragen Asyl,
werden sie an die nächstgelegene Erstaufnahmeeinrichtung verwiesen.
Mithilfe des bundesweiten Verteilersystems Erstverteilung von
Asylbegehrenden (EASY) wird dann „die für seine Unterbringung zuständige
Aufnahmeeinrichtung“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2011: 19)
ermittelt. Die Verteilung erfolgt anhand des Königsteiner Schlüssels, einem
auf die Bundesländer angewendeten Verteilungssystem, dessen Werte zu zwei
Dritteln auf dem Steueraufkommen und zu einem Drittel auf der
Bevölkerungszahl der Länder beruhen.
Mithilfe dieses Verfahrens soll eine faire und schnelle Aufteilung von
Asylsuchenden auf die einzelnen Bundesländer und deren Verwaltungsbezirke
gewährleistet werden. Maßgebend ist hier die möglichst gleichmäßige
Kostenaufteilung zwischen den Bundesländern. Auf Belange der Asylsuchenden,
die unter Umständen bereits Kontakte, etwa Freunde und Bekannte, in
Deutschland haben, nimmt das computergestützte Verteilsystem keine
Rücksicht; das System ist ganz auf ein kurzweiliges Entscheidungsverfahren
ausgerichtet. Dem widerspricht jedoch die verwaltungspraktische Realität:
Die Entscheidungsverfahren zu Erstanträgen dauern im Durchschnitt 17 Monate
– solange wird eine Duldung ausgesprochen. Der Zustand der Duldung kann
sich in Einzelfällen sogar auf ein Jahrzehnt erstrecken.
Kunst im öffentlichen Raum? Vor dem bewohnten Teil des Lagers.
Der zweite Aspekt der verwaltungspraktischen Ausgestaltung der
Residenzpflicht betrifft die Regeln zur Erteilung einer
Verlassenserlaubnis. Laut Gesetz wird sie erteilt, „[…] wenn hieran ein
dringendes öffentliches Interesse besteht, zwingende Gründe es erfordern
oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde“
(AsylVfG: Art. 58). Die Definition von zwingenden Gründen und unbilliger
Härte überlassen die Bundesgesetzgeber somit den Ländern und Kommunen. In
der Praxis führt dies zu einer enorm langen Verfahrensspanne. Schon auf der
Landesebene der 16 Bundesländer zeigen sich große Differenzen. Die drei
benachbarten Bundesländer Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt verfolgen
beispielsweise ganz unterschiedliche Richtlinien. In Berliner und
Brandenburger Behörden gilt gemäß einer gemeindeübergreifenden Verordnung,
dass die Versagung des vorübergehenden Verlassens „grundsätzlich nur
ausnahmsweise verfügt werden“ sollte (Selders 2009: 138), etwa wenn
Erkenntnisse vorliegen, dass die Betroffenen nicht zurückkehren werden oder
beabsichtigen, sich strafbar zu machen. Die Erlaubnis wird also im
Allgemeinen und ohne Auflagen von Gebühren erteilt (vgl. Dienelt 2011).
Dem steht Sachsen-Anhalt gegenüber, wo die Ausgestaltung der
Residenzpflicht von Gemeinde zu Gemeinde variiert. Das drückt sich zum
Beispiel in der Erhebung von Gebühren aus, die bis vor kurzem von einigen
Landkreisen für die Ausstellung einer Verlassenserlaubnis in Höhe von 10
Euro gefordert wurden. 10 Euro sind für Asylsuchende und Geduldete jedoch
kein Kleingeld, sondern ein Viertel des monatlich zur Verfügung stehenden
Bargelds. Denn in einigen Bezirken Sachsen-Anhalts wird ihnen nur ein
Taschengeld ausgezahlt. Der ihnen zugesprochene Anteil zur Lebenssicherung
wird in solchen Fällen ausschließlich in Coupons und Gutscheinen
ausgegeben, die für Lebensmittel und Hygieneartikel einzulösen sind.
Angesichts solcher Verfahrensweisen stellen bereits die geringsten Gebühren
für die Betroffenen eine enorme Behinderung ihrer ohnehin eingeschränkten
Mobilität dar.
Diese Gebühren sind vom Gesetzgeber bzw. der Gesetzgeberin nicht
vorgesehen. Im Oktober 2011 wurde daher die im Saalekreis zu zahlende
Gebühr mit der Begründung der „ungebührlichen Härte“ vom Magdeburger
Oberverwaltungsgericht kritisiert und für rechtlich unzulässig erklärt
(Skrzypczak 2011).
Probleme solcher Art werden in manchen Fällen durch den Verlauf der
Bezirksgrenzen noch weiter verschärft. Manche Unterkünfte liegen nahe an
Landesgrenzen, deren Überquerung den Betroffenen Vorteile bringen würde:
Beispielsweise in Form einer größeren Stadt mit kulturellen und sozialen
Angeboten oder Rechtsbeistand (z.B. Rechtsanwälte mit Spezialisierung auf
Asylrecht). Allerdings muss auch dafür meist eine Verlassenserlaubnis
eingeholt werden – bei Behörden, die bis zu 30 Kilometer entfernt liegen.
In einem von der Flüchtlingsberatung Oberhessen dokumentierten Fall ergaben
sich daraus regelmäßig Umwege von 70 Kilometern (Selders 2009: 56).
Residenz: Chiffre für unwürdige Unterkunft
„Kakerlakenplagen, Schimmelbefall und bröckelnde Bausubstanz.“
Die Bedeutung von Grenzen lässt sich erst voll ermessen, wenn man die
Lebenssituation innerhalb der einzelnen Grenzgebiete berücksichtigt. Die
innerdeutschen Grenzen sind in einigen Fällen nur unter schweren
Repressalien zu passieren; zudem wird ihre unerlaubte Überquerung
strafrechtlich verfolgt. Was veranlasst die Betroffenen dennoch zur
teilweise mühseligen Beantragung einer Verlassenserlaubnis, oder gar zu
einer illegalisierten Ausreise? Bei näherer Betrachtung der Lebenssituation
der Flüchtlinge lassen sich rasch zwei Gründe ausmachen. Die Unterkünfte
liegen erstens oftmals weit von jeder größeren Ortschaft entfernt, und auf
Dauer wird die Abgelegenheit für viele Betroffene unerträglich. Dass
Asylsuchende und Geduldete nicht arbeiten dürfen, isoliert sie zusätzlich.
Darüber hinaus dürfen sie nicht wählen, sie haben kein Anrecht auf einen
Ausbildungsplatz und auch nicht auf einen Platz in einer
Integrationsmaßnahme oder einem Deutschkurs. Sie bekommen also nichts vom
Alltag der Bundesbürger mit und sie können in der Regel weder die Sprache
ihres Aufnahmelandes noch die Lokalkultur kennenlernen. Zusammen mit den
Hürden zur Erteilung einer Verlassenserlaubnis verhindert die
Residenzpflicht jeden Ausbruch aus dieser tristen Lebenssituation.
Hinzu kommt der schlechte Zustand der Unterkünfte. Diese sind meist in
ehemaligen Kasernen eingerichtet und liegen mittlerweile in Händen privater
Träger. Missständen und Mängeln der Unterkünfte können die Bewohner kaum
etwas entgegensetzen. Ihnen fehlt die Möglichkeit, alternative Wohnungen zu
beziehen, so dass die Inhaber wenig motiviert sind, ihre Immobilien in
Stand zu halten. Die Bewohner klagen immer wieder über Kakerlakenplagen,
Schimmelbefall und bröckelnde Bausubstanz. Auffallend ist, dass sich gerade
die Unterkünfte in einigen Bezirken Sachsen-Anhalts, wo die Residenzpflicht
äußerst restriktiv ausgestaltet wird, in besonders schlechtem Zustand
befinden. Die Gemeinschaftsunterkunft Möhlau, eine alte Kaserne außerhalb
des Ortes Möhlau im Kreis Wittenberg, ist genau solch ein Beispiel. Seit
drei Jahren versuchen Bewohner und regionale Initiativen gemeinsam, die
Umsiedlung der Asylsuchenden in normale Wohnungen der umliegenden Orte zu
erreichen, stoßen dabei jedoch auf Unverständnis in Verwaltung wie
Kreistag. Zumindest die zwanzig Familien der Unterkunft sollten zum Februar
2012 in Wohnungen in Wittenberg und Vockerode untergebracht werden. Im März
war allerdings noch immer alles beim alten.
Kleine Mängel oder systematische Schikane?
Die fatale Wirkungskraft der innerdeutschen Grenzen entsteht aus dem
Zusammenwirken von Residenzpflicht, Verwaltungspraxis und Wohnsituation.
Offen bleibt die Frage, inwiefern diese Gesamtwirkung tatsächlich
beabsichtigt ist. Vielleicht sind lediglich die einzelnen Faktoren, nicht
aber ihr Produkt intendiert?
Aufschluss gibt die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE (s.
PDF) aus dem Jahr 2010 zu den Auswirkungen der Residenzpflicht auf
Asylsuchende und Geduldete. In ihrer Antwort trat die Bundesregierung als
Befürworterin der Residenzpflicht auf. „Die räumliche Beschränkung des
Aufenthalts dient dazu, eine gleichmäßige Verteilung der mit der Aufnahme
von Asylbewerbern verbundenen Aufgaben und Belastungen für Länder und
Kommunen zu gewährleisten“ (Kleine Anfrage 2010: 3).
Abfahrt der Omnibusse zum Bahnhof in Gräfenheinichen: Mo-Fr 6:48 Uhr, 12:59
Uhr, 13:53 Uhr und 14:48 Uhr.
Dabei stehen sowohl die Rechtslage als auch die Verwaltungspraxis in
scharfem Kontrast zu dieser auf den Kostenfaktor verweisenden
Argumentation. Erstens sind Asylsuchende durch das Arbeitsverbot gezwungen,
auf Kosten des Staates zu leben. Zweitens wird dieser Zustand durch die
Jahre währende Dauer der Verfahren vom Staat selbst in die Länge gezogen.
Drittens sind die Mietkosten der Sammelunterkünfte, gemessen an ihrem
Zustand, höher als bei Mietwohnungen im städtischen Bereich. Denn sobald
Proteste in konkreten Renovierungsforderungen gipfeln, verlangen die
privaten Vermieter für eben diese Arbeiten Zulagen vom Staat. Abgesehen von
einem Mittel zur nicht nachweislichen Kostenersparnis scheint die
Residenzpflicht in den Augen der schwarz-gelben Regierung wenig mehr denn
eine verschärfte Meldepflicht zu sein: „Zudem ermöglicht die jederzeitige
Erreichbarkeit der Asylbewerber eine beschleunigte Durchführung der
Asylverfahren. Bei der Prüfung und Bearbeitung der Asylanträge sollen die
Ausländer mitwirken und daher jederzeit, z. B. für Anhörungen, für die
Verwaltung und die Gerichte erreichbar sein. Bei abgelehnten Asylbewerbern
dient die ständige Erreichbarkeit der Vorbereitung und Durchführung von
Rückkehrmaßnahmen“ (Kleine Anfrage 2010: 2).
Bei einer Durchführungsdauer von bis zu sechs Jahren für Erstanträge ist es
kaum vorstellbar, dass die „jederzeitige Erreichbarkeit“ der Betroffenen
wirklich ins Gewicht fällt. Auch lässt diese Argumentation offen, weshalb
Asylsuchende oder Geduldete ihren Aufenthaltsort nicht ebenso wechseln
dürfen sollten wie deutsche Staatsangehörige, solange sie die neue Adresse
ordnungsgemäß angeben.
Hinter der Argumentation einer verschärften Meldepflicht verbirgt sich
offenbar die Sorge der Behörden, Asylsuchende und Geduldete würden auf
einer ihrer Ausreisen abtauchen, um so ihrer möglichen Ausweisung zu
entgehen. Derartige Fälle gab es, und sie scheinen der Bundesregierung
Recht zu geben. Allerdings werden solche Fälle auch weiterhin vorkommen,
solange der Lebenssituation der Flüchtlinge nicht ausreichend Rechnung
getragen wird. Insofern ist die gegenwärtige Praxis selbst Teil des
Problems.
Was die Variationsbreite bei den Vorschriften zur Erteilung einer
Verlassenerlaubnis betrifft, so bewertet die Bundesregierung diese als
insgesamt hinnehmbar. „Unterschiede in der Ausgestaltung gehören zu einem
föderalen System und sind den historisch gewachsenen strukturellen
Unterschieden zwischen den Ländern geschuldet“ (Kleine Anfrage 2010: 4).
Die Intransparenz, die Asylsuchende zusätzlich behindert, wird völlig
außer Acht gelassen.
Diese Ignoranz macht misstrauisch. Wenn der Sinn der innerdeutschen Grenzen
in gleichmäßiger Lastenverteilung und guter Erreichbarkeit besteht, warum
wird dies nicht mit effektiveren Mitteln verfolgt, die weniger ausgrenzende
und zermürbende Nebenwirkungen aufwiesen? Asylsuchende und Geduldete wären
nicht minder erreichbar, wenn ihnen erlaubt würde, sich selbst eine Wohnung
zu suchen, solange sie diesen Wohnort angeben. Ist die soziale Ausgrenzung
von Flüchtlingen etwa mehr als nur eine unbeabsichtigte Begleiterscheinung?
„Die Türken kommen – rette sich wer kann!“
Eingang des bewohnten Blocks im „Residenz-Bezirk“ Möhlau.
Eine historische Untersuchung der bundesdeutschen Geschichte legt genau
diesen Schluss nahe. Die Ausländerpolitik ist seit dem Zweiten Weltkrieg
geprägt durch Verdrängung und – später – Abschottung:
In der Zeit des Wiederaufbaus brauchte man billige Arbeitskräfte, so dass
ab 1955 mit verschiedenen Ländern Anwerbeverträge geschlossen wurden, als
deren Resultat etwa zweieinhalb Millionen Arbeitsmigranten einreisten.
Immigration wurde jedoch erst ab 1972 öffentlich thematisiert, denn die
Deutschen waren allgemein der Meinung, dass „bei eventueller
Arbeitslosigkeit in Deutschland die ausländischen Arbeiter wieder
zurückgeschickt werden können“ (Herbert 2003: 202). Die sogenannten
Gastarbeiter wurden schlicht lange Zeit nicht als dauerhaft Bleibende
betrachtet.
Als der Migrationstrend schließlich doch noch bemerkt wurde, schaltete die
Bundesrepublik den Rückwärtsgang ein. Zeitschriften wie Der Spiegel
titelten 1973: „Die Türken kommen – rette sich, wer kann!“, und
Bundeskanzler Willi Brandt kündigte im November 1973 die Anwerbeabkommen
mittels des Anwerbestops auf. Die Abschottung hatte begonnen, und sie wurde
durch vielfältige Maßnahmen der Verdrängung unterstützt: aus dem
politischen Raum durch die Verweigerung des Wahlrechts und aus dem
Stadtbild durch eine Unterbringung am Rande oder jenseits der Ortschaften.
Im Endeffekt sollten Migranten aus dem Land selbst verdrängt werden; dazu
dienten Maßnahmen wie die Nicht-Verlängerung der Arbeitserlaubnis im Jahr
1974. Am prägnantesten drückte es Helmut Kohl 1983, kurz vor seiner Wahl
zum Kanzler, aus: „Die Zahl der ausländischen Mitbürger muss vermindert
werden“ (Herbert 1983: 26).
Vor diesem Hintergrund zeigt sich die 1982 implementierte Residenzpflicht
als ein Kind ihrer Zeit. Die schwer zu ertragende Wohnsituation in
Kombination mit der restriktiven Verwaltungspraxis produziert eine
Lebenssituation, die darauf abzielt, Asylsuchende von der Immigration nach
Deutschland abzuschrecken.
Wie wird es mit diesen innerdeutschen Grenzen in Zukunft weitergehen? Der
Historiker Karl-Heinz Meier-Braun gab 1988 zu bedenken, dass „[d]ie Zukunft
der Ausländerpolitik […] weniger von Regierungswechseln als von der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und der damit verbundenen Stimmung in der
deutschen Bevölkerung abhängen [wird]“ (Meier-Braun 1988: 72). Die
politische Praxis scheint ihm heute recht zu geben: Als Reaktion auf den
halb konstatierten, halb prophezeiten Fachkräftemangel hat die aktuelle
Regierung unter Kanzlerin Merkel Ende 2011 die räumliche Beschränkung für
Geduldete dahingehend gelockert, dass besonders qualifizierte Geduldete zum
Zweck der Arbeitsaufnahme oder Weiterbildung von der Residenzpflicht
befreit sind, wenn sie bereits vier Jahre in Deutschland residiert haben
(vgl. §18a AufenthG: Gesetzesstand 14.2.2012). Zwar wird nun in einigen
Gemeinden und Bundesländern umgedacht, wie das Magdeburger Urteil über die
10-€-Gebühr oder die Zusammenlegung von Berlin und Brandenburg zu einem
großen Residenz-Bezirk anzeigen. Damit sind jedoch nur Ausnahmen, aber kein
Umdenken in Sicht. Die innerdeutsche Teilung in über 600 Parzellen mit all
ihren Grenzen bleibt für Asylsuchende und Geduldete bis auf Weiteres
bestehen.
„Die Bedeutung von Grenzen lässt sich erst voll ermessen, wenn man die
Lebenssituation innerhalb der einzelnen Grenzgebiete berücksichtigt.“ Der
Wohnblock für Asylsuchende und Geduldete in Möhlau.
Vielen Dank der Gruppe no lager (Halle) für die freundliche Bereitstellung
der Bilder.
—
*Contact :*
*Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrantinnen Wittenberg,
Sachsen Anhalt*
*Flüchtlingsinitiative Wittenberg, Sachsen Anhalt*
*The Voice Refugee Forum Wittenberg, Sachsen Anhalt
Tel: +4917699321843
e-mail: fluchtmohlau@googlemail.com,
fluchtlingsinitiativewittenberg@yahoo.com
http:refugeeinitiativewittenberg.blogspot.com, www.thecaravan.org,
www.thevoiceforum.org