EU-„Asylreform“: Was nicht sicher ist, wird sicher genannt
Construction Site of a new camp on Samos, January 2020, Deportation Monitoring Aegean – bordermonitoring.eu
Was nicht sicher ist, wird sicher genannt
Ein Beitrag von Clara Taxis auf dis:orient
Wer in Europa Schutz sucht, muss in Zukunft als Fachkraft kommen. Oder massive Gewalt und Haft an den Außengrenzen in Kauf nehmen. Was als historischer Kompromiss gefeiert wird, hat weder politische Weitsicht, noch Empathie für Betroffene.
Am 8. Juni 2023 einigten sich die Innenminister:innen der EU-Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Position in den Verhandlungen um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Kernstück der neuen Position sind verpflichtende Prüfverfahren an den EU-Außengrenzen – wer von Vornherein ‚schlechte Karten‘ hat, wird von dort abgeschoben.
Wie gut die Chancen stehen, hängt vom Herkunftsland ab, vom Alter und von der Schutzbedürftigkeit. Ein weiterer Faktor ist hochrelevant: „Das zweite Kriterium soll sein, ob die Betroffenen über so genannte sichere Drittstaaten eingereist sind. Die kann die EU nach eigenem Ermessen festlegen. Die Einstufung etwa der Türkei, Tunesiens und einiger Balkanstaaten würde praktisch alle Ankommenden erfassen“, fasst Christian Jakob für die taz zusammen.
Für diese neuen ‚Schnellprüfungen‘ sollen die Ankommenden in Lagern festgehalten werden, Karl Kopp von Pro Asyl bestätigt: „Die Erfahrung zeigt, dass Verfahren an der Grenze zu humanitären Missständen, schlechten Verfahren und letztlich zu einer Verweigerung von Schutz führen“.
Wo bleibt die Aufklärung der Gewalt an den Außengrenzen?
Wenn in den EU-Institutionen debattiert wird, wie die Grenzen immer effektiver „filtern“ können, ist der Tod vieler Menschen, die migrieren müssen, eingerechnet. Das zeigt die aktuelle Praxis: Es gibt die Grenzschutzagentur FRONTEX, die trotz massiver Skandale weitere Budgetsteigerungen einfordern kann; es gibt massenhaft dokumentierte Verstöße gegen das Non-Refoulement-Prinzip in Mitgliedstaaten der EU, es werden nachweislich dauerhaft Menschenrechte in den Camps auf der europäischen Seite der Außengrenzen verletzt, wie etwa auf Lesbos.
Dort schlug im Mai die Organisation Ärzte ohne Grenzen Alarm, denn es verschwanden seit Beginn 2022 über 900 Menschen von der Insel. Die Ärzt:innen gehen davon aus, dass diese Menschen illegal in die Türkei abgeschoben wurden. Der Ablauf von Rettungsaktionen und anderen Fällen, bei denen Schiffsbrüchigen keine Hilfe zukommt ist durch NGOs wie Watch The Med AlarmPhone systematisch dokumentiert. Diese Menschenrechtsverletzungen zu beenden, ist kein zentraler Bestandteil der aktuellen Debatten um das GEAS.
Folgt man den Diskussionen um das Asylsystem scheint es eher, als sei das Thema Migration mit der immer stärkeren Einschränkung und Bestrafung von illegalisierter Mobilität ein für alle Mal beantwortet. Das Motto, so scheint es: Aus den Augen aus dem Sinn. Die immer engmaschigeren „objektiven Kriterien“ zur Einschränkung des Zugangs zu Asyl macht das Festhalten von Menschen in Lagern nicht besser.
Politische Grenzüberschreitung
Auch in der Sahara zwischen Niger, Algerien und Libyen sterben die Menschen an und durch Grenzen. Das Alarm Phone Sahara dokumentiert seit 2018 Abschiebungen aus Algerien, sowie die Folgen der EU-Politik im Niger. Sie klären darüber auf, wie EU-Politik innerhalb des afrikanischen Kontinents zur Kriminalisierung von Grenzüberschreitungen geführt hat, die eigentlich durch Freizügigkeitsabkommen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) legal sind. Diese oft zirkulären Migrationsbewegungen prägten seit Jahrhunderten den Alltag in der Region, bis heute ist 80 Prozent der Migration durch die Sahara innerafrikanische Migration.
Für die neuen Pläne zur Reform des GEAS greift die EU auf die Staaten jenseits des Mittelmeers zurück, diesmal heißt es: Wer durch ein sicheres Drittland an die EU-Außengrenzen kommt, hat kein Anrecht auf Asyl. Aber was bedeutet das konkret?
‚Sicherer Drittstaat‘ Tunesien: Sowohl Migrant:innen, als auch Tunesier:innen verlassen das Land
Nehmen wir das Beispiel Tunesiens. Aus Sicht von Migrant:innen war Tunesien relativ liberal; auch nach 2011 konnten in dem Land viele Afrikaner:innen arbeiten und studieren, nachdem dies beispielsweise in Libyen absolut unvorstellbar wurde. Heute, zwölf Jahre nach der demokratischen Revolution, befindet sich Tunesien auf direktem Wege in eine neue Diktatur. Neben innenpolitischer Repression schien Präsident Kaïs Saïed am 21. Februar 2023 völlig den Verstand zu verlieren, verbreitete über die staatlich kontrollierten Medien Verschwörungstheorien eines Bevölkerungsaustauschs und hetzte gegen Schwarze Menschen in Tunesien.
Die Folgen waren drastisch: Viele Schwarze Menschen verloren ihre Wohnungen, ihren Job und es gab offene Hetzjagden auf den Straßen. Westafrikanische Staaten evakuierten ihre Staatsangehörigen. Auch wenn sich die Rhetorik seitdem wieder etwas beruhigt hat, bleiben viele Menschen obdachlos und ohne Einkommen. Einige von ihnen haben sich organisiert und tweeten unter @RefugeesTunisia über tödlichen Rassismus und die Verweigerung von Hilfe durch die UN. Andere nahmen den Fluchtweg über das Mittelmeer. Die Ankunftszahlen in Italien stiegen. Es scheint klar: Tunesien ist nicht sicher.
Im krassen Kontrast dazu steht der Besuch von Mark Rutte, Ursula von der Leyen und Giorgia Meloni bei Tunesiens Präsident Kaïs Saïed direkt nach dem Beschluss zur Verschärfung des Asylsystems. Ihr Angebot: Eine enge wirtschaftliche und migrationspolitische Zusammenarbeit. Kritische Journalist:innen waren bei der Pressekonferenz zum Abschluss des Besuchs nicht zugelassen.
Ein weiterer ‚sicherer Drittstaat‘ ist die Türkei. Im viel beachteten Präsidentschaftswahlkampf versprachen beide Hauptkandidaten ihren Wähler:innen eine möglichst zügige Rückführung aller im Land lebenden Syrer:innen und die Kooperation mit Baschar al-Assad zu diesem Zweck. Für viele von ihnen bedeutet das im schlimmsten Fall den erneuten Verlust ihres Lebensmittelpunkts und Verfolgung. Je nachdem wie zügig die Pläne umgesetzt werden, ist die Türkei kein sicherer Ort für sie. Dasselbe gilt für Afghan:innen, die auch schon vor der Wahl direkt in die Arme der Taliban abgeschoben wurden. Die weitere Amtszeit Recep Tayyip Erdoğans bedeutet auch, dass aus der Türkei Geflüchtete auf absehbare Zeit nicht zurückkehren können, sondern möglicherweise noch mehr Oppositionelle, Kurd:innen und Journalist:innen in den kommenden Jahren wegen der Repression das Land verlassen müssen.
Durch das Benennen von sicheren Drittstaaten nimmt die EU künftig auch Menschen mit guten Chancen auf einen Schutzstatus das Recht, Asyl zu beantragen. Werden diese Menschen dann aus den sicheren Drittstaaten zurück in ihr Herkunftsland abgeschoben, was nach EU-Recht nicht ginge, trägt die EU rechtlich keine Verantwortung. Leute, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkönnen, stellt das vor die Frage: Wo sind wir eigentlich sicher? Der Druck, sich einen neuen, wirklich sicheren Ort zu suchen, wächst.
Gewalt durch den Grenzschutz heißt auch mehr Gewalt, vor der Menschen fliehen
Die EU ist derweil dabei, alte Fehler zu wiederholen. Schon 2015 war der lange Sommer der Migration für Forscher:innen keine Überraschung. Damals wurden die internationalen Gelder für die Unterstützung der Nachbarländer Syriens gekürzt und die Lage für Geflüchtete dort verschlechterte sich rapide. Im Dezember 2014 musste das Welternährungsprogramm das System der Essensgutscheine für syrische Geflüchtete in Syrien und den Nachbarländern einstellen, da durch ausbleibende Zahlungen der internationalen Gemeinschaft 89 Prozent des Budgets fehlte. Die Organisation warnte vor katastrophalen Umständen und weiteren Migrationsbewegungen.
In der EU sah man die Entwicklungen nicht, oder es wurde angenommen, dass Grenz-‚Sicherung‘ die Lösung sei. Beides war politisch kurzsichtig. Stattdessen hätte eine Stabilisierung und Unterstützung der Länder jenseits der Außengrenzen bei gleichzeitig eröffneten legalen Fluchtwegen viele tragische Unfälle und in Lagern vergeudete Lebenszeit der Flüchtenden vermieden.
Für ein weiteres Beispiel der europäischen Kurzsichtigkeit lohnt sich der Blick in den Sudan, wo sich seit dem 15. April 2023 zwei Generäle kriegerisch bekämpfen, zum Leidwesen der Zivilbevölkerung. Eine der Kriegsparteien wurde 2017 von der weltweit bekannten Schlächtermiliz Dschandschawid (engl. Janjaweed) in eine offizielle Einheit, die Rapid Support Forces (RSF), umgewandelt, damals noch vom Langzeitdiktator Omar al-Baschir. Warum? Zum ersten Mal seit den 1990er-Jahren wurde ab 2014 die diplomatische Isolation des Sudan im Khartum Prozess von europäischer Seite aufgebrochen, um über die Zusammenarbeit zur Verbesserung des Grenzschutzes des Sudan zu verhandeln.
Erst durch diesen Prozess und die europäische Finanzierung dieses neuen „Grenzschutzes“ konnte die RSF zur eigenständigen, bewaffneten Einheit innerhalb des sudanesischen Machtgefüges werden. Die Menschen müssen also auch deswegen aus dem Sudan in die Nachbarländer flüchten, weil die EU auf die Finanzierung von Repression setzt, statt die progressiven Kräfte in ihrem Kampf um demokratische Teilhabe und zivile Regierungsformen zu unterstützten.
Für Fachkräfte will Deutschland attraktiv sein, für Flüchtende bleibt das Lager an der Außengrenze
Wer diese Entwicklungen in Europa auf dem Schirm hat, sind die Freund:innen und Verwandten der Betroffenen. Viele von ihnen sind materiell und aufenthaltsrechtlich angekommen, hätten also die Möglichkeit, ihre Lieben zu unterstützen und zu sich, beispielsweise nach Deutschland, zu holen. Auf Nachfrage sagt unter anderem der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, es gebe „nach wie vor nicht viele Möglichkeiten“. Familiennachzug ist meist nur für Angehörige der Kernfamilie möglich und auch für Aufnahmeprogramme gilt dasselbe. Besuchsvisa seien eine „sehr theoretische Möglichkeit“. Übrig bleibt der Weg über Studierenden- und Arbeitsvisa, die langwierige Prozesse inklusive des Erlernens der Sprache voraussetzen. Legale Wege für den Notfall gibt es nicht.
Dem Bedürfnis, unbedingt die Grenzen „schützen“ zu wollen, steht in Deutschland derzeit die Bemühung entgegen, sogenannte Fachkräfte willkommen zu heißen. Die Einteilung in erwünschte und unerwünschte Migrant:innen ist eine Sackgasse, in der auch die Grünen nach schönen Versprechen im Parteiprogramm zum Thema Menschenrechte und Migration nun gelandet sind. Sich aus einer neoliberalen Logik heraus für benötigte Arbeitskräfte attraktiv zu machen, geht nicht mit einer rassistischen Grenz- und Asylpolitik zusammen.
Dieses Framing von Migration muss, gemeinsam mit dem EU-Grenzregime, insgesamt als gescheitert erklärt werden. Obwohl es scheinbar keine Schmerzgrenze mehr gibt, wenn es um die Einschränkung der Rechte von Migrierenden geht, hört Migration nicht auf. Die Grenze und damit die politischen Herausforderungen von Migration werden mit der EU-Reform weiter in den „Globalen Süden“ verlagert – eine Lösung ist das nicht.
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Auch hörenswert der Spiegelpodcast Stimmenfang eine Einordnung des Entwurfs mit dem Migrationsforscher Bernd Kasparek: Kommen jetzt weniger Flüchtlinge?
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FAQ zur geplanten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)