8 Thesen zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft

8 Thesen zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft

Quelle: 8thesen.antira.info

1. Ohne Migration gibt es keine Gesellschaft

Wir leben in einer Migrationsgesellschaft, in der sich nicht zwischen einer vermeintlich „einheimischen“ und „fremden“ Bevölkerung unterscheiden lässt. Migration gab es schon immer und wird es auch in Zukunft geben. Ohne Migration gäbe es keine Gesellschaft. Migration ist also nicht, wie Ex-Innenminister Horst Seehofer behauptete, die „Mutter aller Probleme“, sondern wenn, dann die „Mutter aller Gesellschaften“. Migration bedeutet keinen Kontrollverlust, sondern ist unsere Realität.

Teil dieser Realität ist heute wie früher, dass Menschen auch gegen ihren Willen zur Flucht gezwungen werden. Durch gewaltsame Verschleppung und Vertreibung, als Resultat von Kriegen und Konflikten sowie Ausbeutung. Vieles davon sind Auswirkungen der imperialen Lebensweise des globalen Nordens — darunter die Klimakrise, die mehr und mehr Orte auf dem Planeten unbewohnbar macht.

Vertreibung verhindern heißt, politisch für globale Gerechtigkeit zu kämpfen. Gleichzeitig müssen wir Menschen Schutz gewähren und Migration ermöglichen, denn nur so kann eine plurale Gesellschaft bestehen und lebendig bleiben. Lasst uns gemeinsam Bedingungen schaffen, die der Gesellschaft und allen Individuen ermöglichen, sich zu entfalten. Lasst uns die Gesellschaft der Vielen immer wieder neu gestalten.

2. Wir haben kein Migrationsproblem, es geht um die soziale Frage

Wachsende soziale Ungleichheiten, prekäre Arbeitsverhältnisse, Wohnungsnot und mangelnde Infrastruktur betreffen große Teile der Gesellschaft — hierzulande und global. Ihre Ursachen liegen, unter anderem, in der extrem ungleichen Verteilung von Wohlstand, in vernachlässigter Sozialpolitik und chronischer Unterfinanzierung der Kommunen.

Wir stellen uns gegen die Verkehrung von Ursache und Wirkung. Nicht Migration, sondern eine politisch geschaffene soziale Ungleichheit ist die Hauptursache der Krise in Bereichen wie Wohnen, Schule und Sozialpolitik. Esgibt zahlreiche gesellschaftliche Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen und Angebote für alle Menschen zu schaffen. Doch die gegenwärtige Politik rennt in die falsche Richtung.

Die sogenannte „Zeitenwende“ in der Außen- und Sicherheitspolitik sehen wir nicht als Lösung der multiplen Krisen, sondern als Gefahr, globale Krisen weiter anzuheizen und neue Fluchtursachen zu schaffen. Die Aufrüstungspolitik droht von massiven Einsparungen in den Bereichen Soziales, Klima- und Bildungspolitik sowie Katastrophenschutz und Entwicklungszusammenarbeit begleitet zu werden. Lasst uns die zugrunde liegenden Probleme verstehen und Lösungen finden, anstatt andere Menschen zu Sündenböcken zu machen!

3. Migration zum Problem zu erklären fördert rechte Ideologie

Entrechtung und Abschottung verhindern den gesellschaftlichen Rechtsruck nicht, sondern befeuern ihn. Weder Haftlager an den Außengrenzen noch Deals mit sogenannten „Drittstaaten“ reduzieren, wie ihre Verfechter:innen behaupten, die Zahl der Flüchtenden und Toten an unseren Außengrenzen. Genauso wenig verhindern sie die autoritäre Verschiebung innerhalb Europas — ganz im Gegenteil!

Das Erstarken faschistischer Ideologien zeugt vom Versagen, adäquate und demokratische Antworten auf die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Populistische Versprechen, „einfache Lösungen“ und das Spiel mit Stereotypen sind Wasser auf die Mühlen antidemokratischer Kräfte. Erst wenn wir die Grundannahme, Migration sei eine Gefahr für die Gesellschaft, entkräften, können wir rechten Ideologien den Wind aus den Segeln nehmen und an Lösungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt arbeiten. Nicht Migration ist das Problem, sondern die Zunahme autoritärer und menschenfeindlicher Haltungen.

Um die Gefahr des Faschismus effektiv zu bannen, gibt es verschiedene Wege: Es braucht eine Stärkung von Vielfalt, sozialer Teilhabe und politischer Bildungsarbeit. Gleichzeitig bedarf es einer Null-Toleranz-Politik gegenüber menschenfeindlichen Äußerungen und Ideologien und einer klaren Kante gegen rechts. Rechte Politik steht für Ausgrenzung und Entrechtung — sie lässt sich nicht mit Ausgrenzung und Entrechtung bekämpfen.

4. Die Entrechtung einzelner Gruppen ist nur der Anfang — es gibt kein Menschenrecht light

Deutsche und europäische Politik tragen maßgeblich Verantwortung für massive Verletzungen der Menschenwürde inner- und außerhalb der EU-Grenzen. Die Gewalt, die sich an den europäischen Außengrenzen abspielt, rückt gleichzeitig immer weiter ins Innere: Rechtsstaatliche Prinzipien werden ausgehebelt, Presse- und Meinungsfreiheit werden beschränkt, solidarische Unterstützung behindert oder kriminalisiert, menschliche Not ignoriert und Gewalt rationalisiert oder verschleiert.

Die Geschichte lehrt uns, dass Ausgrenzung und Entrechtung nicht bei einzelnen Gruppen stehen bleibt. Der Entzug von Grundrechten und das Schüren rassistischer und antisemitischer Ressentiments führt zu einem innergesellschaftlichen Autoritarismus und dem Erstarken rechter Bewegungen, so wie wir es gegenwärtig in Deutschland und großen Teilen Europas beobachten können. Die Aus- grenzung wird sich nicht nur gegen Minderheiten und marginalisierte Gruppen richten, sondern langfristig die Freiheit aller einschränken. Menschenrechte sind universell und unteilbar. Die einzige Antwort auf die Spaltung der Gesellschaft und politische Rechtsverschiebung kann und muss Solidarität heißen!

5. Auch die Ampel-Regierung bereitet den Weg für den gesellschaftlichen Rechtsruck

Auch wenn die Ampel-Fraktionen sich als Teil der Brandmauer verstehen und wir sie dafür bräuchten, trägt ihr politisches Handeln und ihre Rhetorik de facto zum gesellschaftlichen Rechtsruck bei. Das Erstarken rechter Ideologien kann nicht dadurch bekämpft werden, dass man sich auf Kosten grundlegender Menschenrechte deren Forderungen annähert. Doch die Ampel-Koalition tut genau dies und bietet dadurch zusätzlichen Nährboden für rechte Erzählungen. Die CDU/CSU fordert gleich die grundsätzliche Abschaffung des Asylrechts in Deutschland, während sie sich ebenfalls zur Brandmauer gegen die AfD erklärt.

Durch die Zustimmung zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems riskiert die Ampel-Koalition heute schon die de facto Abschaffung des Asylrechts auf europäischer Ebene. Auf nationaler Ebene fördert sie Inhaftierungs- und Abschiebepolitik, wie beispielsweise das Rückführungs-Verbesserungsgesetz, das kurz nach der Enthüllung der AfD-Deportationspläne vom Bundestag verabschiedet wurde.

Solange die Ampel das Signal sendet, dass Abschottung für sie über dem Schutz der Menschenrechte steht und dafür auch Flucht kriminalisiert wird, macht sie sich für den Rechtsruck mit verantwortlich. Stattdessen brauchen wir ein starkes und unumstößliches Bekenntnis der Regierung zur Allgemeingültigkeit der Menschenrechte — gerade gegenüber geflüchteten Menschen.

6. Das Recht, Asyl zu suchen, ist kein Gnadenrecht

Asyl ist ein Grundrecht. Das Recht, Asyl zu suchen, ist im Völker- und Europarecht tief verankert: Es ergibt sich aus Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Daneben steht das Recht geflüchteter Menschen auf Schutz vor Verfolgung, welches unter anderem in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten ist.

Diese völkerrechtlichen Verträge und die Grundrechte-Charta der EU sind für Deutschland bindend. Zugang zum Asylsystem sicherzustellen und Schutz zu gewähren ist kein humanitärer Gnadenakt, sondern eine zwingende Verpflichtung gegenüber Geflüchteten. Wenn Menschen an den EU-Außengrenzen um Schutz ersuchen und ihnen daraufhin Zugang zu den Asylsystemen gewährt wird, ist das also kein Kontrollverlust, sondern entspricht schlicht den geltenden Verträgen. Das Recht, spontan Asyl zu suchen, lässt sich auch nicht durch Programme der freiwilligen Aufnahme, Deals für Fachkräfte-Einwanderung oder ins Ausland ausgelagerte Verfahren zur Asylantragstellung ersetzen.

7. Entrechtung und Spaltung geht auf Kosten der Gesellschaft

Die Entrechtung von Menschen löst keine sozialen Pro-bleme, sondern kreiert zahlreiche Folgeprobleme für alle. Abschottung, Abschiebungen, Arbeitsverbote und die erzwungene Unterbringung in Sammelunterkünften hindern Menschen daran, einen sinnvollen Anschluss an ihre neue Umgebung zu finden — und kosten zusätzlich Milliarden. Dieses Geld ließe sich besser ausgeben: für die Unterstützung beim Ankommen und für Strukturen in den Gemeinden und Kommunen.

In den Debatten um Migration fahren wir in Deutschland zweigleisig: Fachkräfte? Ja! Schutzsuchende? Nein! Das unwürdige Spalten in „nützliche“ und „nicht nützliche“ Menschen und ihre Illegalisierung aufgrund vermeintlich „falscher“ Migrationsmotive muss ein Ende haben. Wenn Deutschland für Einwanderung attraktiv sein soll, müssen wir an den Kern: die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens beenden.

Auch die Unterbringung in Lagern und das Schwanken zwischen Arbeitsverbot und Arbeitszwang muss aufhören. Stattdessen muss allen Menschen ein geregelter und fairer Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht werden, ebenso wie zu anderen Gütern der sozialen Grundsicherung — anstatt sie mit Bezahlkarten abzuspeisen. Auch die Ausgrenzung aus der gesundheitlichen Regelversorgung schadet letztlich allen Steuerzahler:innen, weil Krankheiten nicht rechtzeitig behandelt werden und unter Umständen chronisch werden. Hören wir auf, die Benachteiligung verschiedener Gruppen gegeneinander auszuspielen und Isolierung, Ausgrenzungen und künstliche Abhängigkeiten zu schaffen. Wir wollen ein selbstbestimmtes Leben für alle!

8. Den strukturellen Rassismus überwinden — Menschenrechte und Solidarität sind unteilbar

Rassistische Denkmuster sind tief in die europäische Ge-sellschaft eingeschrieben. Das Ergebnis ist struktureller Rassismus, der in vielen Bereichen wie Bildung, Arbeitsmarktzugang, Gesundheitsversorgung und Wohnungssuche Gleichbehandlung verhindert. Für Menschen, die nicht weiß sind, denen eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit zugeschrieben wird, Menschen mit Behinderung und Menschen, die nicht der klassischen Geschlechternorm entsprechen, ist das Leben von ständiger Diskriminierung geprägt. Sich des eigenen Rassismus und der eigenen Vorurteile bewusst zu werden, ist der erste Schritt, diese zu überwinden. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns gemeinsam stellen müssen.

In aktuellen Debatten zum Thema Flucht und Migration wird jegliche Menschlichkeit und Rationalität fallen gelassen. Wir akzeptieren Bilder von Toten an unseren Außengrenzen, wir akzeptieren, dass Sozialleistungen für Geflüchtete das gesetzlich festgelegte Minimum unterschreiten, wir akzeptieren, dass manchen Gruppen fundamentale Rechte abgesprochen werden. Angeblich „sichere“ Grenzen werden mit einem Maß an Zwang und Gewalt erkauft, das letztlich die Freiheit aller gefährdet. Denn Menschenrechte verlieren ihre Wertigkeit, wenn sie nicht für alle gleichermaßen gelten. Die Rechte Geflüchteter sind somit unser aller Rechte. Lasst uns gemeinsam für sie einstehen!

Unsere Solidarität ist und bleibt unteilbar!


Antifaschistische Plattform zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft

Wir sind ein bundesweiter Zusammenschluss von Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen und kommen aus der kritischen Migrationsforschung, der antirassistischen Arbeit und der Menschenrechtsbewegung. Wir haben uns angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks zusammengefunden.

Antifaschismus ist eine Notwendigkeit und Migration Realität der demokratischen Gesellschaft. Ihre Verteidigung ist unser Anliegen.

Wir sehen diese Thesen als Diskussionsangebot. Wenn ihr mit uns ins Gespräch kommen, eine Veranstaltung organisieren oder mehr Flyer zum Verteilen haben wollt, kontaktiert uns gerne unter: kontakt-plattform[at]posteo.de

Stand: April 2024

Thesen als Flyer bestellen: www.medico.de/zur-verteidigung-der-migrationsgesellschaft-19501